„Genderwissenschaften“ – brauchen wir das noch?

Heute ist Weltfrauentag. Wir feiern das Wahlrecht für Frauen und den Kampf um die Gleichberechtigung. Wir schauen uns Zahlen und Entwicklungen an, freuen uns über Fortschritte, und versprechen uns, weiter für Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit der Geschlechter zu kämpfen. Ein guter Tag also, mal ein wenig über die Genderwissenschaften nachzudenken.

Wieso das? Die Genderwissenschaften sind eine Weiterentwicklung der so genannten „Womens Studies“ der 60er Jahre. „Wissenschaftliche Frauenforschung“ gab es bereits viel früher. Allerdings aus einer rein männlichen Perspektive, denn für die Frauen blieben die Universitäten bis ins 20. Jahrhundert hinein verschlossen. So war die männliche Frauenforschung oft vom Rollenverständnis des Mannes geprägt, und/ oder mit religiösen Dogmen durchsetzt. Auch historisch interessante Theorien zur Bildung der Geschlechter hielten sich im rein männlichen Wissenschaftsdiskurs lange. So postulierte ein Mediziner Anfang des 17. Jahrhunderts, durch eine höhere Körpertemperatur würden sich die männlichen Genitalien beim Mann nach außen stülpen, während sie bei der minderwertigeren, kühleren Frau im Inneren blieben. Dort wären sie anfällig für allerlei Krankheiten, vermutlich wegen ihrer Nähe zum Darm. Die Theorie hielt sich ein Jahrhundert, was gar nicht einmal so überraschend ist. Immerhin gab es keinerlei Leidensdruck männlicher Wissenschaftler, das defizitäre Frauenbild selbst zu korrigieren.

Geschichte der Genderwissenschaften

In den 60er Jahren, – die Frauen der westlichen Welt durften seit wenigen Jahrzehnten studieren, aber noch nicht überall ein eigenes Bankkonto ohne die Erlaubnis des Ehemannes führen, – änderte sich das. Die Frauenforschung sollte aus einer neuen Perspektive, einer feministischen Blickrichtung, neu angegangen werden. Sie beabsichtigte, die Lebenswelt von Frauen, ihre Erfahrungen und ihre Lebensverhältnisse zu analysieren. Dabei war sie von Anfang an interdisziplinär ausgelegt. Das bedeutet, sie war sowohl in der Soziologie, als auch in der Anthropologie, der Geschichte und den Kulturwissenschaften beheimatet.

Aus dieser Entwicklung heraus entstanden die Männerforschung sowie die Geschlechterforschung, die beide Bereiche vereint. Wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte brachten allerdings Schritt für Schritt die Erkenntnis, dass wir im biologischen Sinne keine reine Binarität bei den Geschlechtern haben. Was die Disziplinen „Frauenforschung“ und „Männerforschung“ noch nahelegten – zwei voneinander klar abgrenzbare Geschlechter – ist biologisch unvollständig. Vielmehr gibt es Mischgeschlechter, die wir als „intersexuell“ bezeichnen, sowie Menschen, deren biologisches Geschlecht nicht mit ihrem gefühlten Geschlecht übereinstimmt. Diese nennen wir "transgender". Beide Phänomene kommen in größerer Zahl vor als wir noch vor wenigen Jahren dachten.

Feminismus – oftmals falsch verstanden als Bewegung, die die Ablösung des Patriarchats zugunsten eines Matriarchats plant – ist eine Perspektive, die von der Gleichwertigkeit aller Menschen ausgeht. Eine strukturelle Benachteiligung ebenfalls diskriminierter Gruppen der Gesellschaft wie Inter- und Transsexuelle, gleichgeschlechtlich Liebende, Queere, aber auch People of Color (die fürchterlich abgekürzten „PoC“) ist mit dem Grundgedanken des Feminismus unvereinbar. So ging die Frauenforschung über in die Genderstudies, die von der historischen Perspektive der Geschlechterforschung abrückten und sich, ebenfalls interdisziplinär, vor allem um die sogenannte Konstruktion des sozialen Geschlechts („Gender“) kümmerten. Eines der wissenschaftlichen Ziele der Genderstudies ist, herauszufinden, welche biologischen Komponenten von „Geschlecht“ tatsächlich existieren, und welche Faktoren von „Geschlecht“ sozial konstruiert werden, sprich: Tradition, Rollenverständnis und Zuschreibung von außen sind.

Es geht bei Genderstudies also um die fachübergreifende Analyse von Geschlechterrollen in unserer Gesellschaft. Durch Erkenntnisse, Forschung und Aufklärung soll dabei der Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher Randgruppen entgegen gewirkt werden.

Kritik an den Genderstudies

Seit einigen Jahren geht das Interesse an der Genderforschung, die sich nun immer mehr als Unterbereich einzelner Disziplinen wie der Kulturwissenschaften festigt, zurück. Ein Grund dafür ist die stärkere Ausdifferenzierung der Fächer – die interdisziplinäre Richtung war immer schon in vielen Fachrichtungen beheimatet und wird nun als Teil der Germanistik, der Kulturanthropologie, der Ethnologie, der Biologie und vielen anderen weitergeführt. Ein weiterer Grund könnte in der Kritik durch die Öffentlichkeit liegen. Mit ihrem stärkeren Fokus auf die Diskriminierung unter anderem von Homosexuellen wurde Genderwissenschaftler*innen eine „Schwulisierung der Gesellschaft“ vorgeworfen. Präsent ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch die Diskussion um den neuen baden-württembergischen Lehrplan, der „sexuelle Vielfalt“ als eines der neuen Themen im Bildungsplan verankern wollte. Und gegen den tausende besorgter Eltern mit peinlicher Unterstützung der Landeskirchen protestierten. Als wäre Homosexualität eine Idee, die Kinder gerne einmal nachmachen würden, sobald sie davon hörten. Für diese und andere Öffnungen in eine stärkere Diversität machten viele den wissenschaftlichen Diskurs der Genderstudies verantwortlich. Trans- und Homosexualität, die Konstruktion von Geschlechtern und der feministische Grundgedanke, so die Kritik, verwirrten Kinder und Jugendliche.

Eine weitere Kritik an der Disziplin ist die „Verunstaltung der deutschen Sprache“. Denn auch der Ansatz, die Handlungsmacht der Sprache zu nutzen, um Randgruppen nicht im sprachlichen Ausdruck zusätzlich zu diskriminieren, hat einen seiner Ursprünge in den Genderwissenschaften. Und zwar im Verbund mit der Linguistik, die die Grundannahmen der Geschlechterforschung in verschiedenen empirischen Studien immer wieder bestätigt. Was heute als „politisch korrekt“ oder als inklusive Sprache bekannt ist, geht auf die Idee eines solchen "gleichwertigen" Sprachgebrauchs zurück. Verwende ich den Genderstern in facebook-Diskussionen, lese ich oft: „Schau, da kommt schon wieder so eine Gendertröte!“. Tatsächlich kommen Vorschläge wie der Genderstern aber aus der feministischen Linguistik, einem Teilbereich der Sprachwissenschaft. Die Genderstudies, könnte man sagen, lieferten den Handlungsimpuls, die Sprachwissenschaften das wissenschaftliche Fundament und den konkreten Vorschlag. Kritik an den Umsetzungen und allgemeines „Genervt-Sein“ trifft dann aber die Disziplin der Genderstudies.

Auch ein Mangel an Forschungsergebnissen wird den Genderstudies häufig vorgeworfen. Tatsächlich ist es schwer, bahnbrechende, rein aus der Geschlechterforschung stammende, wissenschaftliche Veröffentlichungen auszumachen. Durch die interdisziplinäre Anlage des Faches bewegen sich die Genderstudies immer an den Schnittmengen. Aus den Literaturwissenschaften sind mir großartige Untersuchungen zu historischem Frauenbild, Frauenrollen und Frauenforschung des 17. und 18. Jahrhunderts bekannt. Nicht zuletzt die Aufarbeitung der oben erwähnten medizinischen Theorie im Werk Shakespeares, oder die Bände von Elisabeth Bronfen zu Hysterie und weiblichem Tod in der Literatur. Auch die Politik- und die Kulturwissenschaften, die Soziologie, die Psychologie, die Ethnologie und viele andere profitierten und profitieren von dem Perspektivenwechsel, den die Geschlechterforschung seit den 60er Jahren mit sich brachte. Handfeste gesellschaftliche Erfolge der Genderwissenschaften sind heute die Gleichstellungsbeauftragten, die immer stärkere Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen, die bessere Aufklärung über Transsexualität oder auch die Medienbeauftragten, die sich für ein positives, nicht-stigmatisiertes und nicht-klischeehaftes Bild verschiedener Randgruppen in den Medien einsetzen. Die Genderstudies wirken in die anderen Disziplinen und die Gesellschaft hinein.

Ein kleines Fazit

Ob ein eigenständiger Genderstudiengang heute noch sinnvoll ist, oder ob die Disziplin besser in den jeweiligen Rändern anderer Fächer beheimatet wäre, weil sie ohnehin nicht losgelöst existieren kann, lässt sich kaum abschließend beantworten. Die Berechtigung dieser Disziplin schöpft sich wie bei allen wissenschaftlichen Forschungsrichtungen aus dem Vorhandensein einer bestimmten Tatsache. Gibt es das Element Wasser, dann ist es legitim und gegeben, sich diesem Element mit wissenschaftlichen Methoden zu nähern. Gibt es strukturelle Benachteiligung, dann ist das Legitimation genug, diese Benachteiligung in allen Bereichen zu analysieren und darüber zu informieren. Zwei der drei als „Postulat“ bezeichneten Grundannahmen der Genderstudies können bei der Beurteilung ihrer Sinnhaftigkeit helfen:

Das Postulat der Problematik gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse

Ist man grundsätzlich davon überzeugt, dass die Geschlechterrollen in unserer Gesellschaft strukturelle Ungleichheiten, Diskriminierung, Unterdrückung und Leid verursachen (können), so ist die Absicht hinter den Genderwissenschaften einleuchtend. Sie begreifen tradierte Rollenmuster als etwas, das im schlimmsten Fall alle Geschlechter unfrei macht. Ein Beispiel: 2014 wollte sich in Texas ein Junge das Leben nehmen, weil Lehrer*innen und Eltern ihm verboten, mit einem Spielzeug von „My Little Ponies“ zu spielen. Er war deswegen in der Schule gehänselt worden. Heute ist der Junge querschnittsgelähmt.

Oft gilt diese Annahme über die Problematik als unstrittig, weil sie hinreichend belegt werden kann. Aktuell zum Beispiel haben wir ca. 24% Frauen in Führungspositionen, während es im mittleren Management knapp doppelt so viele sind. Studien zeigen aber immer wieder, dass dieses Verhältnis nicht an der fachlichen Kompetenz oder der Kollegialität von Frauen liegt. Und, dass das ideale und produktivste Verhältnis in Arbeitssituationen ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis ist.

Das Postulat, dass die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse weder „naturgegeben noch […] unveränderlich“ sind

Diese Annahme ist die strittigere von beiden. Die Genderstudies gehen generell davon aus, dass es keine zwingende Kausalbeziehung zwischen dem biologischem Geschlecht und der Rolle in der Gesellschaft gibt. Jungs können nicht alle besser Mathe, Mädchen sind nicht per se besser in Sprachen. Transgeschlechtliche Menschen weisen durch ihre bloße Existenz darauf hin, dass die biologische Komponente lange nicht so eindeutig ist wie sie sich in den Köpfen der Menschen bis heute darstellt. Dass meine Tochter die Farbe Pink liebt, sich bereits mit 12 schminken möchte und das ist, was die Gesellschaft als „ein echtes Mädchen“ bezeichnet, ist laut den Genderstudies keineswegs angeboren, sondern in erster Linie sozial konstruiert und durch das erweiterte Umfeld bestimmt. Ein Von-sich-Weisen einer solchen Konstruktion ist sicher eine normale Reaktion. Die Geschlechterforschung fordert uns nicht auf einer abstrakten Ebene heraus, sondern sie zwingt uns, auch uns selbst, unsere eigene Sozialisation und unsere Handlungsmuster zu hinterfragen. Zum Beispiel im Hinblick darauf, ob wir sie ungewollt an unsere Kinder weitergeben.

Fragen wir uns, ob wir die Genderstudies eigentlich brauchen, ist das auch eine Frage nach der Gesellschaft, die wir uns vorstellen. Ich denke, dass uns unsere Annahmen zu unserem Geschlecht, zu Weiblichkeit und Männlichkeit, und unser Wegleugnen des „Dazwischen“, alle bis zu einem gewissen Grad beschränken oder sogar unterdrücken. Der Familienvater, der am liebsten drei Jahre zuhause bleiben und sein Kind versorgen möchte, stößt auch heute noch auf das gleiche Unverständnis wie seine Ehefrau, die kurz nach der Geburt wieder im Konferenzraum ihrer Firma steht. Der Jugendliche, der sich nicht sicher ist, ob er andere Männer liebt oder vielleicht den „falschen“ biologischen Körper hat, erfährt auch heute noch eine Ausgrenzung, die die Suizidraten in dieser Gruppe stark in die Höhe treibt. „Schwul“ ist immer noch ein beliebtes Schimpfwort auf dem Pausenhof, und das Mädchen, das sich den Dinosaurier-Schulranzen zur Einschulung gewünscht hat, wird in den ersten Wochen für ihren „Jungs-Schulranzen“ ausgelacht. Der einzige Unterschied bei diesen Beispielen ist die gesellschaftliche Macht, die die einzelnen Gruppen haben. Erkennt man die eben genannten Beispiele als Probleme einer Gesellschaft an, sind Genderstudies für uns auch heute noch wichtig. Nicht nur für uns Frauen. Sondern für alle Menschen.

Zu diesem Beitrag hat mich eine Bloggerin auf dieser Plattform, @kerosina apfelkern, inspiriert. Dafür Danke! Und weil der Text lang und ernst geworden ist, empfehle ich zum Abschluss passend zum Weltfrauentag das kurze Video „Why can´t girls code?“. Viel Spaß damit.

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Thomas Herzig

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Claudia56

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