Es kam aber die Zeit, da Angela, das ist der Engel, ihres Volkes müde wurde. Sie sprach: "Siehe, dies Volk ist ein undankbares und störrisches. Es will nicht den Nacken unter das Joch beugen. Stets spricht es von dem Eide, den ich geleistet habe, mich nur in seinen Dienst zu stellen, als sei ich Königin nur über mein Volk und nicht über alle Menschen im Erdenrund."

Denn wie im Buche der offenen Tore beschrieben, war das Volk zuletzt störrisch geworden und hatte es den festen Glauben an die Worte der Angela verloren.

Also sagte Angela: "Wählt Einen aus Eurer Mitte, der mir nachfolgen soll. Wählt aber nicht den, der Euch am besten dünkt, denn viele sind berufen, doch wenige auserwählt."

Nun waren in vielen Jahren der Herrschaft Angelas ihre Gefolgsleute geworden wie die Ameisen, die ohne ihre Königin ziellos im Kreise laufen. Wer immer ihr zu widersprechen vermochte, ward verbannt von ihrer Seite, denn was Deines Amtes nicht ist, davon lass deinen Vorwitz. So harrte, wer weise war, auf die Worte Angelas und wiederholte diese getreulich.

So liefen sie denn im Kreise und fragten einander, wer sie denn nun anführen sollte. So kamen sie auf Arminius, das ist der Mächtige: "Einen Mantel hast Du? Sei uns ein Führer!" Er aber sprach: "Darf ich denn sagen 'Ich kann nicht'? Ich bin lange Zeit die Stimme Angelas gewesen, bis dass ihre Gedanken die meinen wurden. So will ich das Erbe getreulich fortführen." Und so wie Angela leugnete er an einem Tag, was er am vorherigen geschworen, und beschwor es am folgenden Tage erneut.

Doch herrschte im Süden ein Fürst, genannt Markus, mit dem Löwen im Wappen. Ihn liebte das Volk um seiner starken Worte willen, doch musste Angela nur ihren Blick auf ihn richten, so gedachte er der Weisheit, ein lebender Hund sei besser denn ein toter Löwe, und verharrte in Demut. Doch da der heutige Tag nichts vom gestrigen weiß, galt er dem Volke trotzdem als starker Fürst.

Was beide nicht bedachten, dass die Gedanken Angelas schon lange gelenkt worden waren von dem Willen um die Herrschaft, gleich mit wem. Und sie erschöpften sich im fruchtlosen Bemühen, dem Sinn Angelas zu folgen, denn er war nicht mehr in ihr, sondern außerhalb ihrer zu finden. Eigenen Sinnes zu sein, hatte man ihnen aber ausgetrieben.

So erschien Anna Lena, das heißt die anmutige Schöne, vor dem Volke. Und so wie in der Sandwüste der kleinste Hügel wie ein hoher Berg wirkt, so umgab auch sie sich mit Frauen, in deren Mitte ihre Schönheit um so heller strahle.

Wie im Buche Margareta beschrieben, war das Volk tiefer Gedanken überdrüssig und sah die Einfalt der Kindlein als heilig an. So sprach auch Anna Lena jeden Tag ein neues Wort, dass sie von dem Verdacht frei sei, tiefe Gedanken zu hegen, und das Volk liebte sie um dessentwillen. Wie jedoch die Kindlein sind, die träumen, was sie gerne wären, so träumte auch Anna Lena, was ihr Leben hätte sein können, und verkündete dies als die Wahrheit. Das Volk jedoch erzürnte ob dieser Eingebungen. Sie aber sprach: "Habe ich doch jeden Tag aufs Neue gefabelt, und Ihr habt es geglaubt. Ist es Euch denn wichtiger, wo ich gewesen, als wo Ihr sein werdet? Wer Augen hat zu sehen, der sieht doch die Narrheit in meinen Weissagungen."

Der dritte Prätendent hingegen war Olaf, das ist der Nachfahr großer Herrscher. Seines Zeichens Kämmerer, ward er auserkoren ob der raren Fähigkeit, zu schweigen von dem, was seines Geistes Horizont überstieg. So hörte man denn seine Stimme höchst selten. So hatte er auch geschwiegen, als der Staatsschatz verschleudert ward und Händler damit ihre Taschen füllten. Er aber und die ihn liebten sprachen: "Er hat nichts getan und nichts gesprochen, so hat er auch nicht gefehlet." Denn in seinem biederen Gebaren und seiner Schweigsamkeit lag ihre letzte Hoffnung. Saskia dagegen, das ist die mit dem Schwerte, trug ihr Herz auf der Zunge. So hatte sie zum Volke gesprochen: "Angela schlug Euch mit Peitschen, ich aber werde Euch mit Skorpionen schlagen. Angela nahm Euch die Hälfte Eures Ertrages, ich werde Euch zwei Dritteile nehmen."

So sagten sie zu Olaf: "Stelle Du Dich voran, denn Du beherrschst die Kunst, Deine Gedanken in Deinem Herzen zu bewahren. Doch hüte Dich, vom rechten Wege abzuweichen, und tue nichts, ohne dass Saskia dies gebilligt habe. Bedenke, dass Du nicht Deinem Willen folgen sollst, sondern uns, die wir Dich gesandt haben." Olaf aber sprach: "Bin ich doch schon so lange in Eurer Mitte, dass ich kaum noch weiß, was ein eigener Wille ist."

So stunden denn die drei vor dem Volke und jeder schrie, er sei der einzig rechtmäßige König. Im Herzen aber rechneten sie, der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf dem Dach, und flüsterten einander zu, welche Sinekuren sie füreinander bereithielten, so sie denn gewählt würden.

Das Volk jedoch fragte sich, was der schicksalsschwere Sonntag wohl bringen würde.

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Hochwald

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nzerr

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