Es ist 5:17 Uhr morgens.

Die Sonne schiebt sich langsam über die Weinhügel meiner Heimat, dem Bezirk Neusiedl

am See. Einer der heißesten Tage des Jahres steht bevor. Zeit aufzubrechen. Bewaffnet

mit Laufschuhen und der nächstbesten Digicam, die ich finde, fahre ich in ein Gebiet, das

ich gerne zu dieser Jahres- und Uhrzeit aufsuche, um die Magie meiner Heimat bildlich

festzuhalten: die Zitzmannsdorfer Wiesen. Ein klein wenig Mystik lag schon immer über

diesen weitläufigen Feldern des Nationalparks Neusiedler See. Wo jetzt frisch gemähtes

Stroh zu Ballen geformt liegt, erstreckte sich früher ein Dorf, das 1529 von türkischen

Truppen auf deren Vormarsch in Richtung Wien zerstört wurde.

Ich war gekommen um ein paar schöne Fotos zu machen, stattdessen stand mir eine

surreale Begegnung bevor, welche die Symbolik der nach Wien marschierenden Männer

wiederaufleben lassen sollte.

Ich parke neben der Bundesstraße, ärgere mich ein wenig über die vielen Autos, die zu

dieser Uhrzeit bereits unterwegs sind, laufe deshalb querfeldein über die in Sonnengold

getauchten Felder und tausche Autolärm gegen Vogelgezwitscher.

Ich knipse ein paar Bilder, laufe an einer Kuhweide vorbei und klettere auf einige

Strohballen. Als ich vergeblich versuche, eine Rohrdommel aus ihrem Schilfversteck zu

locken und auf die Linse zu bekommen, erspähe ich in der Ferne zwei Gestalten.

„Birdwatcher“, denke ich. Wohl ein Ehepaar, das so wie ich die frühen Morgenstunden

nutzt, um ungestört beobachten und genießen zu können.

In Gedanken versuche ich mich an ein paar Fachbegriffe aus der Ornithologie zu erinnern,

um den bevorstehenden Smalltalk ansprechend zu gestalten. Ich biege um die Ecke des

Feldweges und erst jetzt erkenne ich, dass es sich bei den beiden Personen nicht um

Vogelbeobachter handelt, sondern um zwei Männer ausländischer Abstammung. Beide

haben einen Rucksack am Rücken, der eine eine Wasserflasche in der Hand. Mein Hirn

arbeitet, obgleich die Suche nach einer anderen Smalltalk-Strategie sinnlos erscheint.

Was machen die beiden Männer um diese Uhrzeit hier? Die ersten Vorurteile setzen ein:

Flüchtlinge! Erst vor kurzem habe ich gehört, dass inmitten der Felder des Nationalparks

immer wieder illegal angepflanzte Marihuanastauden entdeckt werden, sind die beiden

etwa deshalb so früh unterwegs, um unentdeckt die getrockneten Blätter der Pflanzen zu

ernten?

Oder sind sie nur auf dem Weg zur Arbeit ins nächstgelegene Dorf? Ich akzeptiere diese

subjektive Erklärung und begrüße die beiden mit einem unsicheren aber freundlichen

„Hallo“.

„Hello“, sagt der ältere der beiden. Er ist dunkelhäutig und Ende dreißig. Das Silber, das

seine oberen Schneidezähne ersetzt, glänzt in der Morgensonne. „Where Vienna?“, fragt

der Mann.

„Vienna?“, frage ich verwundert.

Beide nicken. Der andere ist wesentlich jünger, weiß, vielleicht Mitte zwanzig, trägt einen

Kurzhaarschnitt und Oberlippenbart.

„Yes. Vienna. Where?“

Ich zeige in die Richtung aus der die beiden gekommen waren.

„You see this hill there?“

„Yes.“

„Behind there is Vienna.“

Der Mann nickt und sucht nach dem englischen Wort für danke, findet aber nur das seiner

Heimatsprache. „Asanthe“

„Karibu sana“ sage ich in gebrochenem Suaheli. „Gern geschehen“

Wörtlich übersetzt heißt das soviel wie „Herzlich Willkommen“. Mit diesen Worten bin ich

oft in Afrika begrüßt worden, möchte den Männer ebenfalls diese Offenherzigkeit

vermitteln, mache daher eine tollpatschige Verbeugung, die wohl eher nur in Tibet

verstanden worden wäre.

„I am Armin, what is your name?“

„My name is Joseph, and this is Ismael. I come from Somalia, and he is Afghan.“

Wir schütteln uns die Hände.

„Do you live here in Austria?“

„Yes. But...police. No good. Before I lived in Turkey.“

„And where do you want to go?“

„I want to go to Sweden“ sagt Joseph. Er lächelt.

„And you?“

„Me too“, sagt Ismael.

Gerne hätte ich mich noch länger mit den beiden unterhalten. Sie wirken jedoch nervös

und scheinen bald wieder gehen zu wollen.

Noch einmal fragen sie mich nach der Richtung nach Wien.

„And how many kilometers?“

„Around 60.“

„Okay, thank you.“

„Karibu.“

Joseph bedeutet Ismael, er solle ihm folgen. Die beiden zwielichtigen Gestalten machen

sich auf den Weg in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Ich setzte mich auf einen nahegelegen Hochstand und sehe den beiden noch lange nach.

Sie laufen bis ans Ufer des Neusiedler Sees und blicken in die Ferne. Yussuf zeigt auf den

Hügel, hinter dem sich Wien befindet. Er läuft in dessen Richtung. Ismael folgt ihm. Bald

sind die beiden hinter einer Reihe von Bäumen verschwunden.

Am Abend dieses Tages erfahre ich von einer Freundin, dass hinter einem Weinkeller

nahe unseres Heimatdorfes an die 30 Rucksäcke voll mit Kleidung und Dokumenten

entdeckt wurden. Schlepper, die die Flüchtlinge am Autobahn-Zubringer nahe den

Zitzmannsdorfer Wiesen absetzen, sollen den Flüchtlingen angeblich befehlen, sich von

ihrem Hab und Gut zu trennen. Wenn sie jemandem begegnen, so sollen sie lediglich

sagen: „Asyl“ und „Where Vienna?“

Bereits im Mai wurden 45 Flüchtlinge in diesem Gebiet aufgegriffen, immer wieder hört

man Geschichten von Menschen, die völlig planlos durch die Gegend laufen, teilweise

auch mit kleinen Kindern an der Hand. Manche lassen sich bewusst von der Polizei

aufgreifen und in die nächste Übernahmestelle bringen, andere, wie Joseph und Ismael,

versuchen über Wien in ein anderes Land zu kommen.

Es ist 20:23 abends.

Ich frage mich, wo die beiden gerade sind.

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fischundfleisch

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