In den dunklen Tagen sowjetischer Machtwechsel gab es ein untrügliches Zeichen dafür, dass im Kreml etwas Entscheidendes geschah: Das sowjetische Fernsehen spielte ununterbrochen Tschaikowskys Schwanensee. Als Leonid Breschnew, Juri Andropow oder Konstantin Tschernenko starben, verschwand das übliche Programm, und stundenlang liefen die melancholisch-schwebenden Szenen des Balletts. Jeder wusste sofort, dass in Moskau etwas geschehen war – ein Tod, eine Wende, eine bevorstehende Verkündung. Schwanensee war das zarte, zugleich erschütternde Hintergrundrauschen des Umbruchs.

Im August 1991 wiederholte sich dieses Ritual. Während sich Panzer in den Straßen Moskaus bewegten und die Putschisten gegen Gorbatschow versuchten, die Sowjetunion zurück in die Vergangenheit zu drängen, sendete das Staatsfernsehen erneut Schwanensee. Es war ein gespenstisches Déjà-vu: Während die Bühne der Macht bebte, tanzten die Schwäne in Endlosschleife auf sowjetischen Bildschirmen. Dieses Ballett, ursprünglich geschaffen als Märchen vom verzauberten Schwanenmädchen, wurde so zum Symbol des politischen Stillstands, des Schweigens vor dem Drama.
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Heute hat Schwanensee in Russland wieder eine neue, brisante Bedeutung. In St. Petersburg, der Stadt Tschaikowskys, versammeln sich junge Menschen auf öffentlichen Plätzen, tanzen Auszüge aus dem Ballett oder spielen die Musik über Lautsprecher. Sie wissen um die historische Last dieser Melodien – sie sind Code, Erinnerung und Protest zugleich. Das Regime spürt die Gefahr darin. Denn in einem Land, in dem Symbole mehr sagen dürfen als Worte, ist Schwanensee zum akustischen Zeichen des Widerstands geworden.
Diese Woche verdichten sich in St. Petersburg erneut die Zeichen der Rebellion. Die Jugend spürt, dass etwas nicht mehr stimmt – die Wirtschaft stürzt ab, das Versprechen Putins, nach Jahren der Stabilität nun allgemeinen Wohlstand zu bringen, ist zerbrochen. Die Inflation frisst die Löhne, Fabriken stehen still, und selbst in staatlichen Betrieben machen sich Zweifel breit.
Das Regime reagiert mit Panik. Sicherheitskräfte patrouillieren, Social-Media-Accounts werden gelöscht, Musiker und Straßenkünstler verhaftet. Schwanensee zu spielen, genügt, um als Provokateur zu gelten. Doch das Ballett ist längst mehr als Musik: Es ist ein Klang geworden, der an jene Momente erinnert, in denen die Macht ins Wanken geriet. Und diesmal wissen viele: Wenn wieder Schwanensee erklingt, könnte es nicht nur ein Zeichen des Trauerns sein – sondern eines nahen Neubeginns.