Es ist kurz vor halb sieben Uhr am Vormittag und ich bin am Weg zum Zug. Ich renne beinahe Richtung Bahnhof, ich hab meine Geldtasche am Küchentisch vergessen - daher musst ich noch einmal zurück in die Wohnung. Endlich am Bahnsteig, der Zug steht schon abfahrtbereit am Gleis. Ich springe in das Abteil und bin froh einen freien Sitzplatz gesichtet zu haben. Perfekt, ich sitze.

Erst jetzt registriere ich, dass meine Nachbarin mir schräg gegenüber sitzt. Am liebsten würde ich aufstehen und mir einen neuen Platz suchen, keine Nerven für Gespräche zwischen der Frau Nachbarin und mir. Sie alleinstehende Dame im besten Alter, die sicher auf dem Weg zum Einkaufen ist. Ich gestresste Dame, die einfach am Weg ins Büro ihre Ruhe haben will. Ich lächle die Nachbarin an und frage sie warum sie heute auch schon so früh unterwegs ist. Freundlich sein ist wichtig, hat meine Großmutter immer wieder gesagt, die freundlichen Menschen haben es im Leben im leichter. Gut, diesen Rat nehme ich mir tatsächlich schon immer zu Herzen. Daher doch smalltalk mit der Frau Nachbarin. Ich schmunzle, diese Öffis bringen mich immer wieder in Verlegenheit, immer wieder neue Gespräche, immer wieder neue Sitznachbarn. Meine Nachbarin erzählt mir, dass sie tatsächlich am Weg zum Einkaufen ist. Sie will ins Einkaufszentrum fahren, weil da käme sie eh so selten hin und eigentlich würde sie alle Einkäufe normalerweise im Ort erledigen. Fakt ist, meine Nachbarin fährt an ihrem freien Tag in ein überfülltes, stinkendes, großes Einkaufszentrum - in das sie über 50 Kilometer mit dem Zug fahren muss, das heißt fast eine Stunde Zugfahrt. Mir wird schlecht! Wie kann der Mensch das tun? Sie erzählt mir, dass ihre Tochter jeden Samstag Vormittag ins Einkaufszentrum fährt, um sich mit Freunden treffen, Kaffee trinken oder Spaß haben zu können. Ich frage zur Sicherheit nach, ob sie tatsächlich jeden Samstag fährt. Die Nachbarin bejaht die Frage. Ich schüttle den Kopf, und frage nach weiteren Freizeitaktivitäten die die Tochter oder auch die Nachbarin verrichten. Es wird still, sie überlegt viel zu lange. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor bis sie ihr Schweigen bricht. Sie erzählt von Sport, Musik und Freunden die sie besucht. Ich nicke und zeige ihr meine echte Bewunderung. Freizeit ist für mich nach dem Studium ein Fremdwort geworden.

Der Sitzplatz neben mir wird frei, weil der Herr neben mir aus dem Zug aussteigt. Meine Nachbarin nützt die Chance und wechselt den Sitzplatz. Ich frage mich, wie viel Nähe zwischen Nachbarn gesund ist bzw. für mich gesund ist. Wir reden noch immer über das Einkaufszentrum, die vielen Geschäfte und die tolle Auswahl an Dingen, die man so kaufen kann. Sie hat sogar einen kleinen Zettel mit, auf dem sie alles notiert hat - was sie sich in der Stadt kaufen könnte. Neue Schuhe, neue Hosen, neue Pullover, neue Tasche, neue DVDs, neuer Radio und eine lange Lebensmittelliste. Ich frage nach wie sie diese Dinge alle nach Hause bringt, nicht etwa mit den Öffis? Natürlich nicht! Wie dumm von mir, ihre Tochter arbeitet in der Stadt, kann heute früher aus dem Büro raus und holt sie mit dem Auto direkt beim Einkaufszentrum ab. Wahrscheinlich würden sie dann noch gemeinsam eine Kleinigkeit essen und anschließend nach Hause fahren. Ich bin erstaunt, über diese tolle Mutter-Tochter-Aktivität. Ich denke darüber nach, wann ich das letzte Mal mit meiner Mutter einkaufen, shoppen war. Mir fällt es nicht mehr ein, ich weiß es nicht mehr. Ich erledige all meine Einkäufe alleine, im Ort, beim Laden ums Eck. Für mich brauche ich nicht viel einzukaufen, der Kühlschrank ist die meiste Zeit halb leer und meine Jeans schon mehr als fünf Jahre alt - quasi uralt. Ich war schon ewig nicht mehr im Einkaufszentrum und meine Mutter habe ich auch schon sehr lange nicht mehr gesehen. An Datum, Zeit und Ort kann ich mich nicht mehr erinnern.

Der Zug fährt in den Bahnhof ein, ich steige aus, verabschiede mich bei meiner Nachbarin - die noch ein paar Stationen vor sich hat und wünsche ihr noch einen schönen Tag. Am Weg ins Büro rufe ich meine Mutter an, halb verschlafen fragt sie mich wie es mir geht und was ich von ihr brauche. Ich antworte, dass es mir gut geht und dass ich ihre Zeit brauche. Vielleicht hätte sie Lust mal mit mir einkaufen zu gehen oder einfach einen Kaffee zu trinken [...] !!

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irmi

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Johnny

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Naladin

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