Duisburg-Marxloh: Wie Deutschland hier versagt

Vor ziemlich genau einem Jahr besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel das bekannteste Problemviertel Deutschlands. Ich wollte wissen, was seit dem Besuch passiert ist und mache einen Rundgang durch Duisburg-Marxloh. Dies ist die Geschichte eines Stadtteils, in dem Deutschland versagt.

In meiner Kindheit fuhr ich mit meinen Eltern oft ins benachbarte Duisburg, um uns türkische Backwaren zu kaufen. Denn die Baklavas, Böreks und Pides waren da einzigartig gut. Jedoch fühlte ich mich in vielen Stadtteilen Duisburgs gar nicht wohl. Graue Stahlfabriken kennzeichnen große Teile der Stadt. Heruntergekommene Häuser gaben ein tristes Bild ab. Die Straßen waren marode. Kein Wunder, denn Duisburg ist mit 3,3 Milliarden Euro sehr hoch verschuldet. Der Strukturwandel hat in der Stadt am Rhein deutliche Spuren hinterlassen.

Europas „Hochzeitsmeile“

Sinnbild dieses dahinvegetierenden Zustands ist der Duisburger Stadtteil Marxloh. Zwar wurde die marode Hauptstraße neu bepflastert, doch Marxlohs Abstieg scheint unumkehrbar zu sein. Von den 19.818 Einwohnen haben 64% einen Migrationshintergrund. Gering bis mäßig qualifizierte Zuwanderer aus der Türkei und Südosteuropa prägen das Ortsbild. Ein türkisches Geschäft nach dem anderen reiht sich entlang der Weseler Straße, der Hauptstraße. Auffällig ist, dass vor allem Juweliere und Hochzeitskleidergeschäfte in Überzahl vertreten sind. Daher hat die Weseler Straße den romantischen Beinamen „Hochzeitsmeile Europas“. Nur die Autokennzeichen erinnern daran, dass man sich nach wie vor in Deutschland befindet. Ozan ist Mitarbeiter eines Bräutigam-Ladens. Der 23-Jährige Türke erzählt mir, dass Kunden aus den benachbarten Ländern hier gerne vorbeischauen: „Sie kommen extra aus Holland, Belgien und Frankreich, weil sie nirgendwo sonst Brautkleider zu einem niedrigen Preis finden, die so eine hohe Qualität besitzen.“ In der Tat parken vor den Geschäften viele Autos mit belgischem Kennzeichen. Für Ozan läuft das Geschäft prima und er arbeitet gerne in Marxloh.

Das war’s dann auch schon mit den Lobeshymnen. Denn hier überwiegt ein ausgeprägter Grundpessimus. Auf der anderen Straßenseite ist ein deutscher Glücksspielladen-Angestellter ganz anderer Meinung. „Marxloh läuft voll gegen ne Wand“, sagt Jörg (48) mit einem markanten Ruhrpott-Dialekt. „Wenne jetzt umme Ecke gehst, da siehste dat wahre Marxloh mein Freund.“

Wenn ostdeutsche Politiker von „westdeutschen Verhältnissen“ sprechen, dann meinen sie Marxloh.

Duisburg-Marxloh. Ein Ort, der im Zuge der Industrialisierung entstanden und bis in die 1970er Jahre hinein als reicher Bezirk galt. Doch dann kam die Stahlkrise und mit ihr der Anfang vom Niedergang Marxlohs. Die Arbeitslosenquote schoss in die Höhe und beträgt heute 16,5 Prozent. Von staatlicher Hilfe leben 43,5 Prozent. Die Häuser verfallen. Überall liegt Müll. Vor allem in den letzten vier Jahren hat sich die Lage hier massiv verschlechtert. Dies liegt vor allem am Zuzug zahlreicher Roma aus Bulgarien und Rumänien. Wenn ostdeutsche Politiker vor „westdeutschen Verhältnissen“ warnen, dann meinen sie Marxloh. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich vor einem Jahr höchstpersönlich ein Bild vor Ort gemacht und kam mit den Anwohnern im Hotel Montan ins Gespräch. Als ich Jörg darauf anspreche, hat er nur ein zynisches Lachen dafür übrig: „Die Pappnase Merkel hat hier nur ne Propagandashow abgeliefert. Weiße wat die hier extra gemacht haben? Die haben ne Woche bevor sie kam, die Straßen geputzt, alle Asis mit nem Bus außerhalb der Stadt gefahren und nur ausgewählte Fragen zugelassen.“

Zwar hat die Kanzlerin Maßnahmen versprochen, die zur Besserung der Lage beitragen soll, aber man nimmt sie kaum wahr. Es gibt weder eine Integrationsoffensive, noch eine ernstzunehmende Perspektive für die Bürger Marxlohs. Die Menschen werden ihrem Schicksal überlassen. Nicht nur die Integration ist hier gescheitert. Alle qualitativen Merkmale der Bundesrepublik – der international hochbewunderte Sozialstaat und die Infrastruktur - versagen hier.

„Selbst Türken wollen keine Ausländer mehr“

Ich befolge Jörgs Rat und biege an der nächsten Kreuzung links um die Ecke, gehe ein paar Schritte und es dauert nicht lange, bis ich zahlreiche Roma-Familien auf den Straßen sitzen sehe, die mit sich selbst beschäftigt sind. Ihre Kinder spielen und hüpfen herum. Immer wieder fährt ein Polizei-Wagen durch die Straßen. Die traut sich nur noch mit Hundertschaften nach Marxloh.

Mit meiner Erscheinung fall ich ganz schnell auf. Als ich Fotos von dem Viertel machen möchte, versucht mich eine aggressive Frau wegzuscheuchen. Ich habe keine Chance mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ein deutscher Bewohner, dessen Wohnung mitten im Roma-Viertel liegt, wird auf mich aufmerksam und erzählt mir seine Wahrnehmungen: „Das ist echt schlimm geworden hier. Wir sind die einzigen Deutschen, die hier übrig geblieben sind. Sie sind 24 Stunden draußen auf der Straße, machen Lärm, Dreck und drohen anderen Menschen. Man handelt mit Drogen oder macht andere kriminelle Dinge. Unser Vermieter ist Türke. Doch selbst er will keine Ausländer mehr in diesem Haus.“ Ich fragte ihn, welche Gruppe von Ausländern: „Bulgaren und Rumänen.“

Als bulgarische und rumänische Staatsbürger 2014 ebenfalls die EU-Niederlassungsfreiheit bekamen, zogen 2500 Bulgaren und 2100 Rumänen, hauptsächlich Roma und Sinti, nach Duisburg-Marxloh. In ihrer Heimat waren sie sozial isoliert, kaum gebildet und bitterarm. Skrupellose Vermieter, die die maroden und verdreckten Häuser von Marxloh loswerden wollten, haben die Notlage dieser Menschen schamlos ausgenutzt und an sie vermietet. Die Häuser besitzen nicht mal funktionierende Wasserleitungen.

Urin, Kot und Ratten

Ich gehe eine ruhige Straße entlang. Mir fällt auf, dass die Haustüren vieler Wohnhäuser offen stehen. Ich wage einen Blick in die Innenhöfe und plötzlich wird mir übel. Es riecht nach Urin und Kot. In einer Ecke liegt ein kleiner Müllberg, aus dem Ratten hinaus kriechen.

Kaum habe ich das realisiert, gehe ich an einem Wagen vorbei, in dem sich mehrere Roma-Jugendliche befinden. Die Türen stehen auf und ich mache einen flüchtigen Blick hinein. Ich dachte, ich hatte mir das nur eingebildet, aber es war der richtige Eindruck: Die Jugendlichen haben sich was in ihre Arme gespritzt. Dieser Eindruck bestätigt sich, als ich am Eingang eines angrenzenden Parks benutzte Spritzen auf dem Boden liegen sehe. Gleich daneben spielen kleine Kinder.

Um drei Uhr Nachts sind immer noch Kinder auf der Straße

Ich treffe Heike Priebe. Die 52-Jährige ist die Leiterin der Sozialen Dienste vom Verein „Runder Tisch Marxloh“. Sie hat Marxloh nicht aufgegeben und möchte etwas Positives bewirken, gibt aber zu, dass die Integration der Roma fast ein hoffnungsloses Unterfangen sei. „Diese Menschen sind kaum integrierbar, weil sie nicht mal in ihren Heimatländen integriert waren. Sie haben keine Bildung und auch keine Krankenversicherung. Das, was wir als schlecht ansehen, betrachten sie als völlig normal. Immer wieder sieht man um drei Uhr Nachts Kinder auf den Straßen spielen. Dennoch bemühen wir uns, diese Leute nicht in Stich zu lassen. Wir versuchen ihnen unsere Werte zu vermitteln.“ Praktische Dinge, wie etwa den Müll in die Mülltonne zu werfen. Während ich mit Heike rede, ertönt ein Knallgeräusch. Ein Junge hat sein Trinkpäckchen zum Platzen gebracht, indem er darauf gesprungen ist. Als er den Müll nicht aufhebt, ruft Heike streng nach ihm: „Wohin gehört es hin?“ Beschämt hebt der Junge zögerlich das Trinkpäckchen auf und bringt es in den Müll. Plötzlich kommt eine Roma-Familie auf uns zu. Ein kleiner Junge fragt auf Anweisung der Mutter in deutscher Sprache, wo man Pater Oliver findet. Heike beschreibt ihnen den Weg zur Kirche. „Pater Oliver ist Marxlohs Lichtblick“, erklärt mir Heike.

Pater Oliver ist ein katholischer Priester, der mit ehrenamtlichen Ärzten und Sozialarbeitern kostenlose Sprechstunden und Behandlungen für nicht-krankenversicherte Roma anbietet. Auch ich begebe mich zu Pater Oliver, muss aber feststellen, dass ich keine Chance habe, mit ihm zu sprechen, da sich vor dem Eingang der Kirche eine Schlange gebildet hat. Aus einem Nebengebäude der Kirche kommt eine ältere Dame mit einem weißen Kittel heraus. Freundlich und geduldig gestikulierend ruft sie nach dem nächsten Patienten. Es ist tatsächlich ein Lichtblick in einem Ort, an dem auch bei sonnigem Wetter alles dunkel zu sein scheint.

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