Alles gut‘ ist die erste gesamtdeutsche Formel, die wir auch mit den Flüchtlingen, die seit 2015 gekommen sind, teilen. Alle Angst, die deutsche Sprache könnte verschwinden, die so genannte Leitkultur könnte in sich zusammenbrechen, war umsonst. Eine Leitkultur, die man installieren muss, wird niemanden leiten. Wer zum Beispiel ein Land mit einer reichen Alkoholkultur durch Prohibition heilen will, wird scheitern. Das heißt nicht, dass sich Kulturen nicht verändern. Sie verändern sich langsam und von innen heraus.

Diese Wohlfühlformel erschien gerade im Moment der Krise, die so viele mit dem Untergang verwechseln. Es gibt nicht mehr Krieg, Pest und Hunger, sondern immer weniger. Deutschland hat eigentlich kein Problem außer dem Überdruss, der andererseits von einem Innovationsstau begleitet wird. Das führte zu einer Krise der Demokratie mit seltsamer Rückwärtsgewandtheit. Aber wohin sollen wir uns denn wenden, wenn vorne keine Vision zu sehen ist? Wem sollen wir folgen, wenn vorne niemand läuft? Vielleicht begann diese Krise mit Schmidts destruktivem Satz von der Behandlungsbedürftigkeit der Visionäre. Vielleicht war er die Antwort auf einen konkreten Vorwurf, aber er ist auf jeden Fall falsch. Auch der andere berühmte Satz der Demokratie, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann, ist falsch, weil es kein richtiges Leben gibt. Wohlstand ist keine Weltanschauung. Und eine Konfektions-Weltanschauung hat nicht das Zeug zur Weltverbesserung. Weltverbesserung ist aber dringend notwendig, weil die alten Ziele: kein Hunger, keine Pest, kein Krieg erreicht sind.

Eine der merkwürdigsten rechtskonservativen verschwörungstheoretischen Gruppierungen sind die Impfgegner. Tatsächlich gehörte der Impfzwang zu den diktatorischen Repressionen. Aber wenn es keine Diktatur gibt, kann impfen auch nicht repressiv sein. Man darf das nicht damit verwechseln, dass auch in der Demokratie die Bürokratie autoritäre Züge hat, vielleicht haben muss. Das ist ein alter, berechtigter Vorwurf. Die Verhirtung der Eliten ist schon mehrmals gescheitert, in der Gegenwart schon einmal deshalb, weil wir uns alle gegen die Verschafung wehren. Die Demokratie hat den mündigen Menschen geschaffen, von dem der unmündige Mensch geträumt hat, und die Technik hat ihm Kommunikationswerkzeuge in die Hand gegeben, mit denen er nicht nur täglich abstimmen, sondern auch zu jeder politischen Entscheidung eine Million Kommentare abgeben kann. Die digitalen Netzwerke verstärken die Kommentaridentität. Anders gesagt: jeder Mensch sucht nach Bestätigung und im Netz findet er sie schneller als auf der Straße. Umgekehrt zeigt sich aber heute auch viel schneller: jede Definition ist der Grund für die Spaltung. Haben früher gut und gerne fünfhundert Jahre (1054, 1517) zwischen zwei Spaltungen gelegen, sind es heute manchmal nur fünf Minuten.

Seit vielen Jahren reden wir von der Schnelllebigkeit. Nicht wir leben schneller, im Gegenteil, wir leben länger und das ganze letzte Drittel wesentlich langsamer, aber unsere Möglichkeiten werden immer schneller. Die Dinge und Gedanken bewegen sich mit hoher Geschwindigkeit durch Raum und Zeit. Vielleicht ist es sogar so, dass wir staunend am Straßenrand stehen und unsere Gedanken und Dinge vorbeieilen sehen. Fast genauso schnell kann aber jede Ware von jedem beliebigen Ort der Welt zu uns gelangen.

Aber wir sitzen an unseren Computern mit den Vorstellungen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wir sehnen uns nicht nach Autorität zurück, sondern nach Langsamkeit. Alles soll so bleiben, wie es bei unseren Großeltern war. Unsere Großeltern fingen einen der schrecklichsten Kriege aller Zeiten an. Wir wollen also am liebsten die Zukunft nicht verändern, aber die Vergangenheit harmonisieren?

Dieser Umbruch wird zurecht als Chaos empfunden. Wir sehnen uns nach der Geborgenheit, die wir gerade abgeschafft haben. Wir orientieren uns an Medien, die wir eigentlich ablehnen. Dabei spielt das Fernsehen die verhängnisvollste Rolle, weil Bild und Ton zusammen einen höheren Wahrheitsgehalt versprechen. Jeder Irrtum einer Medienanstalt wird aber auch als vermeintliches Staatsverbrechen gerügt. Wenn man einmal überlegt, was alle Religionen und positiven Ideologien eint, so ist es das Streben nach Demut und Gelassenheit. Wer zum Hass aufruft, glaubt sich im recht und will sich nicht zurücknehmen. Würden wir uns dazu erziehen, uns zurückzunehmen, würde die Welt langsamer und wieder verständlicher.

‚Alles gut‘ ist also der Aufruf, im Toben der Welt eine Insel der Güte zu finden. Wenngleich, so sagt diese Formel, die Welt verrückt geworden zu sein scheint, so bleibt doch bei mir alles gut. Gleichzeitig liegt in dem schlichten Gruß auch die Hoffnung für den anderen. Wir haben zu einer inselhaften Freude und Demut gefunden, aber wie ist es mit dir? Ist bei dir auch alles gut? Die Neubürger in unserem Land haben sogar die beiden Formeln ‚alles gut‘ und ‚alles Gute‘ schon zusammengelegt, wenn auch mehr aus semantischer Schwäche, weniger wohl aus visionärer Stärke.

Bleibt der inflationäre Gebrauch. Er ist immer furchtbar. Erinnern wir uns, wie schnell wir das Wort ‚geil‘ entsexualisiert und das Wort ‚genial‘ veralltäglicht haben. Einst war Goethe genial, jetzt ist es der Rabatt für Götterspeise. Inflation lässt sich wohl nicht verhindern. Sie gehört zum naturgegebenen Ablauf oder Profil. Wer Berge liebt, darf sich über Täler nicht wundern. Die Inflation der Wörter hat aber auch eine suggestive Wirkung. Obwohl in Europa mehr in Ordnung als in Unordnung ist – verglichen zum Beispiel mit Kenia -, haben wir eine tiefe Krise der Demokratie. Obwohl wir mehr Kommunikationsmöglichkeiten haben als alle Generationen vor uns, haben wir eine Krise der Glaubwürdigkeit. Obwohl wir die Welt besser kennen als sie jemals zuvor gekannt wurde, gehen wir weiter davon aus, dass es uns am schlechtesten geht. Jeder möchte sein Problem als Priorität anmelden und wundert sich, dass am Problemschalter das Anstehen wie im Ostblock wieder üblich wird. Und hier sollten wir uns erinnern, was wir uns alle am 10. November, ungläubig staunend geschworen haben: nie wieder anstehen. Warten können ist eine der großen Übungen der Gelassenheit und Demut. Statt auf den Orient zu schimpfen, sollten wir diese Gelassenheit von ihm übernehmen.

Obwohl wir also eine wahre Inflation der Krisen haben, sagen wir jeden Tag zwanzigmal ALLES GUT, und das ist auch gut so.

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berridraun

berridraun bewertete diesen Eintrag 14.10.2018 12:33:05

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