Im Bosnienkrieg*, in dem wir bekanntlich den Bosniaken, den europäischen Muslimen, gegen den Hegemoniewahn der damaligen serbischen Führung unter dem Nationalbolschewisten Milošević halfen, nahmen wir auch Kriegsflüchtlinge auf, deren Kinder bei uns Berufsausbildungen oder das Abitur machen konnten, während Vedran Smajlović mit seinem Cello die Nationalbibliothek in Sarajevo verteidigte. In Heidelberg ging der kleine Saša Stanišić zur Schule, und sein Deutschlehrer entdeckte sein Schreibtalent und förderte es in den Pausen im Biologieraum. Sein erstes Buch, WIE DER SOLDAT DAS GRAMMOFON REPARIERTE (2006), fiel schon durch seinen außergewöhnlichen Stil, seine anekdotische Struktur und sein fast antikes Pendeln zwischen Komödie und Tragödie auf. Seine Einordnung als bloß migrantisches Talent konnte er mit seinem zweiten Roman abstreifen, denn VOR DEM FEST (2014) spielt in dem kleinen uckermärkischen Dorf Fürstenwerder und zeigt nicht nur dessen Ostblockvergangenheit und Ossigegenwart, sondern auch die Allgegenwart der Migration. In Fürstenwerder wurde der Roman natürlich gefeiert und mancher hat vielleicht zum ersten Mal darüber nachgedacht, dass ein Begebnis nicht durch ein Motiv, sondern durch tausende Beweggründe angeschoben oder aufgehalten oder aufgehoben wird.

Sein dritter Roman, HERKUNFT (2019), ist soeben erschienen und löst die ganze Familiengeschichte, die in Bosnien oft an ein einziges Dorf gekoppelt ist, als anekdotisches Material der Weltgeschichte auf. Die Marxzitate seiner liebenswerten, aber auch fragilen Mutter konterkarieren ebendiese Weltgeschichte fast karikaturistisch, während die touristisch-kitschige Verwandlung der Heimat- und/oder Herkunftsstadt Višegrad durch Emir Kusturica gerade mal eine einzige Zeile erhält. Es zeigt sich, warum Stanišić verrückte Geschichten erzählt oder seine Großmutter erzählen lässt: Geschichten sind verrückte Wirklichkeit. Geschichte ist verrückte Wirklichkeit.

Višegrad ist eine ganz kleine Stadt im Tal der Drina, das genauso malerisch-hinreißend ist wie die Täler der Neretva, in dem Yul Brunner einst den Partisanenkampf vorführte, oder der Bosna, Save, Miljacka und des Vrbas, in dessen Höhlensystem sich Partisanengeneral Tito verbarg. Zwei Brücken haben die Weltgeschichte abgebildet oder wegkatapultiert: die Brücke über die Drina in Višegrad, die von dem anderen Dichter aus dieser Stadt** zum Symbol der Kontinuität gemacht wurde, und die Lateinerbrücker in Sarajevo, auf der der erste Weltkrieg begann.

Viele Menschen glauben (wieder), dass sie ihre Herkunft oder Heimat auf einen topografischen Punkt, auf eine (ihre) Familie, auf eine Sprache reduzieren können. Stanišić dagegen zeigt in absurd komischen Szenen, wie unzuverlässig selbst das Autokennzeichen als Abbild einer vielbeschworenen Identität wird. Der Polizist an der Grenze, der auf das Käsesandwich scharf ist, hört den Akzent und sagt: ihr seid doch gar keine Kroaten. Der Akzent macht die Grenze durchlässig oder undurchlässig, nicht die Mauer oder der Zaun.

Andererseits gab es in Heidelberg, wo eine viel jüngere, aber nicht unähnliche Brücke den Neckar überschreitet, das Ghetto der Zugezogenen, dominiert von Russlanddeutschen, Polendeutschen, Jugos, wie man damals sagte, Deutschtürken und deutschen Levantinern. Heimat ist, wie wir am Beispiel des alten Zahnarztes Dr. Heimat lernen können, Freundlichkeit. Und auch das Ghetto hat einen Weg nach innen und einen anderen nach außen. Einerseits entsteht ein neuer, manchmal lebenslanger Zusammenhalt, andererseits ist es ein Sprungbrett, in dem es im inneren den Blick auf das wesentliche äußere lenkt. Berühmte Ghettoflüchter waren Rothschild und Mendelssohn, aber auch Armstrong und Baldwin. Stanišić studiert Slavistik und wird Deutschdozent am MIT. Indessen werden seine Eltern abgeschoben und gehen erst nach Amerika, dann nach Kroatien. Die Familie, die so vielen als ein heimatlicher Monolith erscheint, ist ein Schnipselhaufen. Die meisten Menschen können über ihre Großeltern nicht hinausdenken, davor ist der Monolith zum Chaos zerwürfelt. Aus Familie und Nation lässt sich meist keine Kontinuität gewinnen. Wer nun etwa das gebeutelte Bosnien mit dem angeblich stabilen Deutschland aufrechnen will, hat von Geschichte keine Ahnung. Auch wer andere beutelt, findet keinen Frieden. Außerdem ist das Leben der so genannten einfachen, also nicht besonderen Menschen immer kontinuierlicher als die National- oder Weltgeschichte. Am Kriegsmorgen und am ersten Tag im Frieden muss es ein Frühstück geben oder wenigstens ein Stück Brot am Mittag. Erst wenn man nicht mehr über das Essen nachdenken muss, kann man sich mit Demokratie und Bildung beschäftigen.

Indessen ist, im Buch HERKUNFT, der Pessimismus auch bis in die Berge vorgedrungen: Als die Familie, nun besuchsweise im Tal der Drina, hoch oben einen Friedhof besuchen will, trifft sie auf einen allein gebliebenen und insofern etwas verwahrlosten Verwandten, der den allgemeinen Irrglauben teilt und mitteilt: ‚Auf einen guten Menschen kommen hierzulande drei Verbrecher.‘*** Die Zahl der guten Menschen ist eine Dunkelziffer, obwohl die Taten transparent sind. Wir wissen die Zahl nicht, weil niemand von uns nur gut oder nur schlecht ist. Heute helfen wir, morgen brauchen wir Hilfe, übermorgen sind wir frustriert von der Hilflosigkeit. Aber die Zahl ist immerhin und konstant so groß, dass die Berufspessimisten und Staatsgläubigen das Wort Gutmenschen zum Pejorativ zu machen versuchten. Das ist im Gelächter der guten Menschen untergegangen.

Und hier, genau an dieser Stelle, liegt der Wert dieses so heiteren und gleichzeitig tiefgründigen Werks des deutschen Dichters Stanišić: dass er die von Fanatismus und Gleichgültigkeit zerwürfelten Werte in Figuren seiner Fantasie neu konstruiert. Der Wert ist die Freundlichkeit des Menschen. Man kann sich Menschen nicht aussuchen, aber es begegnen uns genügend Menschen, um daraus ein ICH zu formen und ihm Leben einzuhauchen. Das ICH ist das Konzentrat der ANDEREN. Deshalb ist Dankbarkeit eine gute Reaktion, immer und überall.

Beim Lesen ahnt man es immer mehr: die eigentliche Bedrohung des Menschen ist nicht, dass er das Gute vergisst, sondern, dass er überhaupt vergisst. Die Großmutter in Višegrad, die man nun wieder besucht, aber zu selten besucht, die Mutter kann in Višegrad das Trauma nicht vergessen, die Großmutter vergisst wer wer ist, wer sie ist, wer die anderen sind. Man verlegt sie in ein als Hotel umgedeutetes Altenheim, von denen es in Bosnien bei weitem nicht so viele gibt, aber dann durchschaut ihr schwindendes Gedächtnis das Spiel. Vielleicht ist Demenz das Schicksal des Wohlstands, das Unglück oder auch das Glück.

Nach dem Epilog kommt, anders als im Leben, noch ein Spiel. Die Möglichkeiten menschlichen Seins und ganz konkreter Biografien, werden, ganz wie im Leben, als Möglichkeiten ausgelotet: lesen Sie weiter auf Seite sowieso, wenn sie das oder das wollen. Das ist kürzer, aber amüsanter als bei Paul Auster****, wo man sich nacheinander durch die vier Varianten lesen muss.

Mein Fazit lautet: Am Ende kommt es auf die Brücken an, die Brücken über die Drina und den Neckar, die Brücken über der Drina in die Welt. Dahinter ist nur das rigorose, aber auch absurde Blau.

*1992-1995, 100.000 Tote

**Ivo Andrić

***S. 272

****Paul Auster, 4321, 2017

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