Es ist nicht ganz leicht zu verstehen, dass man die Geschichte kennen sollte, um sich einzuordnen, dass aber die eigne Herkunft kein Qualitätsmerkmal gegenüber anderen Menschen ist. Eigentlich schließen sich die beiden sogar gegenseitig aus. Denn wer glaubt, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer Gruppe über dem aktuellen Verhalten steht, glaubt ja gerade, dass die Geschichte nichts bewirkt. Lange Zeit habe ich Henry Ford für seinen prägnanten Satz bewundert, dass Geschichte Quatsch sei. Der Satz, so schien mir in meiner ganzen Jugend, wäre antiautoritär, weil er der offensichtlichen, plakativen Berufung der gesamten Erwachsenenwelt in Ost und West auf die Geschichte widersprach.

Aber der Mann war Antisemit, ein Bewunderer Hitlers, eher ein Trump als ein Tramp. Seine Bedeutung liegt in der sozial gestützten industriellen Massenproduktion mit wissenschaftlich untersetzter Technologie. Dieser in Deutschland von Rathenau begründete Produktions- und Konsumtionstyp wird auch Fordismus genannt. Der Satz war nur antiautoritär in bezug auf Produktionsmethoden. Der Fordkonzern ist heute noch in Familienbesitz und an der Spitze der Weltautomobilproduktion (2017 an vierter Stelle).

Im Nachkriegsdeutschland wurde betont, dass man aus der Geschichte lernen müsse, aber die Menschen verhielten sich noch genauso wie vor dem gerade erst verlorenen Krieg. Die Kinder spielten auf der Straße Krieg. Die Erwachsenen schlugen die Kinder und sagten: uns hat das auch nicht geschadet. Hätten sie ihre Köpfe erhoben, so hätten sie die menschlichen und baulichen Ruinen gesehen, die ihre Herkunftshybris angerichtet hatte.

Evolutionär scheinen wir uns am wenigsten zu ändern, wenn wir darunter nur die genetische oder physische Anpassung verstehen. Aber ist evolutionär nicht auch der gemeinsame Ursprung in vielleicht einem Dutzend vormenschlicher Gruppen im östlichen Afrika?

Die Metapher dafür sind die – vielleicht ebenfalls ein Dutzend – Menschentstehungsparabeln: Gott als der große Häfner (HARRY POTTER!), der das erste Menschenpaar aus Ton fertigte und ihm Leben einblies, so wie wir heute noch tun, wenn wir einen fast Ertrunkenen retten. Diese – also doch – gemeinsame Quelle des menschlichen Daseins ist zweifellos auch die gleichzeitig das Fundament der Menschlichkeit. So gesehen sind Kriege geschichtsvergessenes Ausnahmeverhalten, vor dem uns auch nachträglich immer schauert. Obwohl es in inzwischen in Europa zwei Weltkriege gegeben hat, ist der dreißigjährige Krieg nicht vergessen und wird in jeder europäischen Regionalgeschichte mit den oft bis heute spürbaren Auswirkungen betont.

Jeder Krieg, aber auch Hunger und Epidemien erzeugen verstärkte Migrationen. Insofern ist jede Region ein Konglomerat der eingewanderten Bevölkerungen und fast nirgendwo eine monochrom. Sprachen verbreiten sich in umso größeren Gebieten, je größer die sozialen Abhängigkeiten sind. So gibt es bis heute isolierte winzige neolithische Völker, aber auf der anderen Seite riesige Sprachen, die von der Hälfte der exponentiell gewachsenen Weltbevölkerung gesprochen werden. Nigeria und Brasilien sind fast gleich groß (je >200 Millionen Einwohner), aber in Nigeria gibt es 514 Sprachen, während in Brasilien 97% aller Menschen portugiesisch als Muttersprache haben. Deshalb sind die beiden Länder auch gute Beispiele, die Renan noch nicht kennen konnte, dafür, warum wir von Regionen und nicht von Völkern oder Nationen sprechen, wenn wir Geschichte meinen.

Die Geschichte hat uns geboren, dividiert und wieder zusammengeführt. Diversität ist sowohl ein inhaltliches als auch ein methodisches Nonplusultra. Denn so sehr die Steinzeitvölker auch wegen ihres friedlichen Lebens, ihrer Naturverbundenheit, ihrer Unaufgeregtheit bewundert werden, die meisten von uns wollen nicht ohne Kunst, Kommunikation und Kommerz leben. Außerdem sind sowohl die Zeit als auch die Geschichte irreversibel. Wir könnten vielleicht im Mittelalter leben, aber in der Steinzeit sicher nicht. Und der Neolithiker aus dem Amazonasbecken oder von Neuguinea, übrigens weisen beide Gebiete weltweit die höchste Biodiversität auf, würde bei uns nicht nur am Fahrkartenautomaten, sondern auch am Individualismus scheitern.

Biografisch sind wir ebenfalls keine Kopien, vielmehr hat der Generationenkonflikt sowohl das Potential zur Entwicklung wie zur Zerstörung in sich. Die Bibel und die Freudwerke sind voll davon. Auch der archaische Bruderzwist zwischen Kain und Abel scheint mehr zu sein als eine Parabel. Auf der anderen Seite ist die Familie selbstverständlich eine tiefe und unerschöpfliche Quelle des Menschen, Orientierung und Fundament zugleich, allerdings muss es nicht die genetische Familie sein. Seit Jahrhunderten tobt der Streit zwischen Natur und Kultur im Menschen, seine vielleicht eigentümlichsten Ausformungen waren die Gestalttheorie auf der einen Seite und der ein Jahrhundert später entstandene Sozialdarwinismus auf der anderen Seite. Beide gehen von einem monokausalen Zusammenhang zwischen Seele und Genetik aus.

So wie aber die regionale Kultur das Konglomerat der eingewanderten Menschen ist, so ist der Mensch auch die Mischung der verschiedensten, vorher oft nicht absehbaren genetischen und kulturellen Eigenschaften. Das macht gerade seine Stärke aus. Immer wieder aber wird die Schwäche aus der Einfalt konstruiert, werden Menschen auf eine, oft zufällige Eigenschaft reduziert. Stellen wir uns vor, ein Mensch aus dem Osten Deutschlands ist schwul, linkshändig, dunkelhäutig, farbenblind, kurzsichtig, stotternd und zuckerkrank. Was an ihm oder ihr ist dann Ossi mit dem Hang zu populistischen Gurus, ob sie nun Gauck, Gauland oder Gysi heißen? Vielmehr zeigte sich nach den vierzig Jahren der Trennung, dass die Verschiedenheiten von Ost und West nicht größer waren als die von Nord und Süd. Nicht jeder Unterschied und nicht jede Gemeinsamkeit ist uns gleich oder überhaupt bewusst. Deshalb ist Geschichte interessant, auch in der merkwürdigen Doppeldeutigkeit des Wortes. Geschichtslos ist gesichtslos. Nur, wer denken kann, kann auch gedenken.

Das Leben wird nur nekrologisch logisch. Deshalb kann man an kaum einer Stelle des Lebens Evidenz verlangen. Wir wissen selten genau, warum wir uns jetzt so oder so entscheiden. Wir wissen deshalb auch nie genau, warum wir dieser Menschen geworden sind, der wir geworden sind. Wir können es aus keiner Logik ableiten. Überhaupt heißt, nach Dr. Dr. Schiller, warum zu fragen, sich in den Jungle von tausenden Möglichkeiten zu begeben, deren jede einzelne wieder tausend Ursachen und Abweichungen beinhaltet.

Aber die Diversität einzuräumen heißt noch lange nicht vor ihr zu kapitulieren. Lesen wir hin und wieder einen 1000-Seiten-Roman, um uns zu erinnern, dass wir in diesem Moment ein Wort aus einem Tausend-Seiten-Roman sind, bei dem auf jeder Seite tausend Wörter stehen, wie in diesem Blog, von denen jedes tausend Bedeutungschattierungen hat.

Fußnoten nur im Originalblog rochusthal.com

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