Unbemerkt, weil über einen langen Zeitraum gestreckt, ging im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die Gewissheit verloren. Die Gesamtwerke von Brecht und Kafka, deren Zeitgenossenschaft kaum bemerkt wird, weil sie unterschiedlichen Klassen angehören, befassen sich damit. Brecht allerdings glaubte, eine neue und ultimative Gewissheit gefunden zu haben, den Klassenkampf, der gut ausgeht. Kafka dagegen hatte keine Zeit mehr, seine Perspektive auszuarbeiten. Sein Genie ertrank im Blut seiner kaputten Lunge. Aber sie würde wohl das Ausgeliefertsein des Menschen an den Zufall, an die Willkür der Dinge, an die Relativität anstelle der Absolutheit beschreiben.

Schließlich trafen zwei Gewissheiten in den beiden großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts aufeinander, und es zeigt sich heute, dass auch die Demokratie keine Gewissheit ist. Jedenfalls ist sie weder dichotomisch einem wie auch immer definierten Bösen gegenübergestellt, noch ist sie das von Hegel und später von Fukuyama vorausgesagte Ende der Geschichte. Daraus folgt natürlich nicht, dass ein Zurückrudern Sinn machen würde, im Gegenteil, denn was früher als Gewissheit gefeiert wurde, hat sich als falsch, unhaltbar und zutiefst ungerecht herausgestellt. Wenn wir nicht zurückrudern können, müssen wir glauben, dass vorne kein todbringender Wasserfall ist. Leben ist also Glauben, aber nicht der Glaube an Gewissheiten wie Vergebung und Wiedergeburt, sondern der Glaube daran, dass man mit sich selbst weiterleben kann und dass es einen kumulativen Sinn des Lebens gibt.

Das Buch Hiob, des merkwürdigsten aller Propheten, und Goethes Faust beschreiben diesen kumulativen Sinn. Er besteht darin, dass man nicht aus dem Meer der Zweifel auftauchen muss, um weiter zu schwimmen. Er besteht darin, dass man nicht ohne Orientierung, aber ohne Garantie handelt. Dieses Handeln ist kein Aktivismus, sondern ein reflektiertes Tun, das sich immer in Frage stellt und das sich trotzdem nicht zurücknehmen muss. Wir reden nicht einem letztendlich sinnlosen und oft missbrauchten Mut das Wort, einer tödlichen Tollkühnheit, sondern eher einer Unverdrossenheit, einem Verharren auf dem Vorwärtsschreiten.

Die Formel vom ‚guten Menschen in allen Ländern‘*, die sich leider noch nicht durchgesetzt hat, wurde, als ich sie verwendete, von extrem rechter und von extrem linker Seite kritisiert. Man verwies auf die Notwendigkeit der Klassifizierung und fragte, was denn sonst, statt Rasse und Klasse, uns weiterhelfen könnte. Rassismus ist keine Klassifizierung, sondern ein Aufruf zum Mord. ‚Klasse‘ ist immer mit Hass verbunden worden. Das kann nicht richtig sein, in keiner Religion und in keiner Philosophie. Trotzdem scheint uns allen der Aberglaube eingeboren zu sein, dass besonders unsere Herkunft Zukunft verspricht. Das ist unser empirisches Schicksal, dem wir nur schwer entkommen können, dem wir aber entkommen sollten. Denn jede Erfahrung ist asymmetrisch, unscharf und oft interessengebunden. Wir können ohne wissenschaftliche Hilfe nicht unterscheiden, ob eine bestimmte Eigenschaft einem Land zugehört, einer Klasse von Wohnplätzen - zum Beispiel Megastädte oder Dörfer -, einer Religion oder Tradition, einer wissenschaftlichen Erkenntnis, dem Zeitgeist oder der Intuition. Wir berufen uns auf Vorstellungen, die Leitplanken gleichen, denn kein Fakt ist greifbar. Dennoch hat das Berufen auf vermeintliche Fakten, also die Evidenz, große Überzeugungskraft.

Dagegen wirkt nur das Erleben und das Erlebte in seiner Permanenz und Intransparenz letztlich als angehäufter Lebenssinn. Wir suchen für unser Leben ein Kreuzfahrtschiff, aber wir befinden uns in einem Kanu. Wir träumen von hellerleuchteten Sälen und Seelen und tappen meist im Dunkeln. Wir befürworten die Aufklärung, aber unser Herz ist voller Sklavensinn und Unterwürfigkeit. Für jede unserer Unmündigkeiten haben wir seitenlange Rechtfertigungen und jahrhundertealte Institutionen. Jedes Papier ist uns wichtiger als jeder Mensch. Kaum jemand wird die Freiheit ablehnen, aber kaum einer lebt sie. Freiheit erscheint zu vielen Menschen als Ideal irreal.

Andererseits muss man die Langsamkeit des einzelnen Menschen, der Gruppen und der Gesellschaften als Wirklichkeit anerkennen. Es gibt zwar jähe Wendungen, aber sie erscheinen uns als falsch und unwirklich. Alle Revolutionen haben die Ideale verbrannt, die sie gerade verkündet hatten. Alle Evolutionen scheinen den Ernst der Lage nicht verstanden zu haben. Im Gegensatz zu einer ersichtlichen Einbahnstraße oder Sackgasse können wir nicht erkennen, ob eine Tradition in das Gestern oder das Morgen führt. Mithin ist ein Leben ohne fremde Vorstellungen für uns unmöglich. Aber selbst in unserer nächsten Umgebung prallen die gegensätzlichen, sich widersprechenden Vorstellungen aufeinander.

Der Papst, den wir nur aus der Fernsicht kennen, lehnt selbst in der Fastenzeit Veganismus ab, der geringste koptische Flüchtling dagegen führt uns den Verzicht in aller Vorbildlichkeit vor. Fasten erfüllt nicht sinnentleerte Gebote, sondern rettet Tiere und Menschen. Freiheit ist kein leerer Wahn, sondern voller Sinn. Allerdings ergibt sich deren Sinn nicht aus einer Ideologie, sondern aus dem Erleben: ‚there are words like liberty / that almost make me cry / if you had known what I knew / you would know why‘, schrieb Langston Hughes und konnte nicht ahnen, dass seine Worte verkehrt herum gelesen würden: er schrieb von Freiheit, nicht vom Leid.

Viele Menschen sagen, halb scherzhaft, gewiss sei nur der Tod. Aber genau das glaubt die andere Hälfte der Menschheit nicht.

*Das ist der schlichte Mensch in allen Ländern

In Arbeit und in Frieden liegt sein Hoffen

An Güte ist er wie das Meer unendlich

In seinem Glauben wie der Himmel offen.

[Binem Heller, Poems, 1932-1939]

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