Als das Joch noch ein im Leben vorhandener, sozusagen lebendiger Gegenstand war, war es auch als Metapher allgegenwärtig. All die Pferde, Ochsen, Ziegen und Hunde, die ins Joch gespannt wurden, um die Lasten der Menschen zu ziehen, sind durch Motore und Vehikel ersetzt. Immer geht mit einer neuen Erfindung die Verheißung der Freiheit einher. Fliegen wurde ('frei wie ein Vogel';) Jahrtausende lang fast als Synonym für Freiheit benutzt. Verdienstvolle Menschen opferten sich, wenn es ihnen vielleicht auch nicht bewusst war, um diesem Traum von Freiheit näher zu kommen. Lange vor Lilienthal aus Anklam und Berblinger aus Ulm flog Abbas Ibn Firnas bei Cordoba in die Katastrophe und Ahmet Celebi über den Bosporus, wurde aber als Ketzer in die Wüste geschickt. Heute fliegen Millionen Marmeladengläser aus Neuguinea, Kiwis aus Neuseeland oder Büroklammern aus China auf der einen Seite, Millionen Urlauber von ihren Plattenbausiedlungen oder jedenfalls aus ihren Großstädten in eigens für sie gebaute Ghettohotelkomplexe auf der anderen Seite. Nur Flüchtlinge benutzen noch antike Boote.

Die Globalisierung wird indessen wieder von großen Gruppen als Fluch oder Joch angesehen. Sie glauben, dass die Globalisierung ein Machwerk großer Konzerne sei, um die Menschheit erstens in den Griff zu bekommen und zweitens nach allen Möglichkeiten auszubeuten, wenn nicht gar zu versklaven.

Der Ochse konnte in der Tat nicht aus seinem Joch heraus. Er starb im Joch, auf dem Feld und wurde vom nächsten Ochsen in die Küche gezogen. Der Mensch dagegen begibt sich mehr oder weniger freiwillig, manchmal durch Unachtsamkeit, durch den Glauben an Versprechungen, durch verlogene Herrscher oder Umstände, die er zu lange geduldet hat, in jochähnliche Zustände, aus denen er dann nicht glaubt, sich jemals wieder befreien zu können. Der Sklave, der aus widrigen Verhältnissen fliehen will, braucht nicht nur Maxima an Mut und Kraft, sondern auch an Empathie und Navigation. Der germanische Gladiator, den Seneca beschreibt, der keinen Ausweg sah, als mit der in den Hals gerammten Fäkalstange dem unausweichlichen und unwürdigen Tod in der Arena zuvorzukommen, wird als Vorbild gerne verworfen. So viele Jahrhunderte haben wir Menschen darüber nachgedacht, um endlich vor dem Wort 'Würde' zu erschauern. Lieber sagen wir, wir kennen es nicht, als dass wir anerkennen, dass es der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben ist.

Als innovator's dilemma bezeichnet man die eigenartige Umkehrung, dass auch der Erfinder des neuen, der Innovator veraltet und es selbst nicht merkt, weil sein Bewusstsein ihm unauslöschlich eingebrannt hat, dass er der Wegweiser ist. Aber es gibt auch ein Dilemma der Menschheit, dass darin besteht, aus einem Joch in das andere zu fallen. Die Quälerei der Pferde und Ochsen in ihren Jochen mag mehr Menschen aufgefallen sein als dem schon kranken Oberphilosophen Nietzsche, der darüber zusammengebrochen ist. Demzufolge wurden die Eisenbahn, das Automobil und das Flugzeug als Befreiung angesehen, ihre Benutzung und ihr Besitz gar als Freiheit. Das ist genauso falsch, wie die Arbeit als Joch zu begreifen.

Arbeit ist genauso Nahrungs- wie Sinnbeschaffung. Tiere unterscheiden sich vom Menschen nicht durch Denken oder Fühlen, sondern dadurch, dass bei ihnen individuell Nahrungssuche und Sinn zusammenfallen, evolutionär dagegen Sinn und Funktion im Biotop. Ein Reh auf einer Waldwiese benötigt den ganzen Tag, um genau die Energie zu sammeln, die es verbraucht. Da ist kein Sinndefizit. Evolutionär gehört es in die berühmte Nahrungskette, rettet Gras und wird vom Wolf gerettet. Der Mensch dagegen hat sich von sich selbst entfremdet, indem er sich ein Dach über dem Kopf baute und das bedeutet, dass er sich von den unmittelbaren Umständen, die optimal für ihn wären, räumlich entfernen kann. Sein Schlüsselwort ist der Vorrat, der beim Eichhörnchen und beim Hamster schon angedeutet ist, mit denen wir eng verwandt sind. Ein Supermarkt ist nichts anderes als das Lager des Hamsters oder die Scheune des Neolithikers. Die Tabakscheunen der Hugenotten in der Uckermark zeigen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, er muss sich auch betäuben. Parallel dazu, mit dem verlorenen Sinn, wurden auch Sinnsubstitute errichtet. Nicht zufällig sind die ersten Tempel baulich identisch mit Markthallen, nämlich der römische Basilikatyp. Wenn man noch weiter bedenkt, dass wir heute mit Markt unserer gesamte komplexe und globalisierte Wirtschaft meinen, dann haben wir uns einerseits nicht weit von unseren Vorfahren vor tausenden Jahren entfernt, andererseits aber wird unsere Sinnsuche klarer. Je straffer der Sinn organisiert war, desto weniger haben wir sein Fehlen bemerkt.

Das Joch ist also keineswegs etwas Negatives. Der Ochse bekommt sein Futter. Der Sklave muss über nichts nachdenken, wenn er Freiheit nicht als Mangel fühlt. Der Mensch in der Diktatur bequemt sich den bizarren Ideologien seiner Führer an, wenn seine tägliche Banane erhält.

In diesem Gedanken liegt auch der Schlüssel für unsere Unzufriedenheit. Wir wollen alles technisch verbessern und verbessern es auch. Aber mit jeder Maschine, die wir benutzen, geht auch ein bisschen Sinn verloren. Deshalb glauben so viele Menschen, dass früher alles besser war. Es ist also nicht nur eine Generationsfrage und ein Problem billigster Medien, sondern auch ein Mangel an Sinn. Sinn ist aber auch wieder kein Regelwerk. Man muss nicht in eine bestimmte Himmelsrichtung blicken, um zu erkennen, dass der Nachbar Hilfe braucht. Ein Gott der gelobt werden will, ist eine anthropomorphe Karikatur. Ein Gott dagegen, der uns anstiftet, Gutes zu tun, die Welt zu verbessern, Sinn und Navigation zu stiften, der steht in allen Schriften aller Philosophen und Propheten.

Aus all dem könnte man leicht schlussfolgern, dass der Mensch wie die von dem kleinen Orwell durchschnittene Wespe sei, die erst, nachdem sie sinnlos geschlungen hat, bemerkt, dass ihr die wichtigere (?) Hälfte fehlt. Es ist moralisch verwerflich, Wespen oder andere Lebewesen zu zerstückeln. Es gibt keine wichtigere Hälfte. Wir müssen immer wieder neu einen Sinn suchen. Dabei können Religionen helfen, Philosophien, überhaupt Narrative. Wer will denn unterscheiden, ob die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern, eine Geschichte von Liebe und Tod, von Hunger und Vergebung, von der Bindungskraft der Familie und der Geschichten, von der Erfindung der Erfindung, von Träumen und Visionen, vom Markt und seinem Chaos, von Macht und Verrat, - ob diese Geschichte von Moses oder von Thomas Mann besser erzählt wurde. Wir Menschen verbleiben lieber in unseren bewährten Vorurteilen als uns auf einen neuen Weg zu begeben.

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Iris123

Iris123 bewertete diesen Eintrag 21.05.2017 15:29:47

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