Wendehälse gabs ja nur im Osten. Das waren die, die nach der Wende plötzlich immer schon dagegen gewesen waren. Und wenn es nur irgend ging, machten sich die Leute zu Verfolgten des DDR-Regimes. Da wurde jede rechtliche Verfehlung zu einer politischen Tat und alle Strafverfolgung zur eben politischen Verfolgung. Und wer so etwas nicht aufweisen konnte, weil er imgrunde ganz gut zurecht gekommen war, erklärte dann mit Trauermiene: "Wir konnten ja doch nichts machen." Wobei so ein NICHTS natürlich immer relativ ist. Manchmal hätte es ja schon gereicht, nicht alles mit zu machen, sich auf seine Haltungen, wenn man denn welche hatte, zu berufen und "nein" zu sagen.

Aber gut oder vielmehr nicht gut. Immerhin hat sich für mich, die ich vielleicht keine Widerständlerin, aber eben auch keine Mitmacherin war, vieles relativiert, als ich später sah, wie die Leute im Land der Freiheit ihr Fähnchen in den Wind gehängt haben, um beruflich voran zu kommen oder, schlimmer noch, einfach gemocht zu werden.

Der Mensch als solcher ist ein Herdentier, merkte ich spätestens da. Und Wissenschaftler behaupten gar, das sei sein eigentliches Erfolgsrezept. Nicht das größere Gehirn, nicht der aufrechte Gang oder die Hände mit dem Daumen dran seien Ursache dafür, dass der Mensch, der am Ende ja auch nichts anderes ist als eine von vielen Kreaturen auf diesem Erdenrund, so erfolgreich sei. Das tatsächliche Erfolgsrezept ist der Umstand, dass der Mensch zur Zusammenarbeit fähig ist, und zwar nicht nur in seiner kleinen Sippe, sondern erdumspannend. Der Mensch kann wirklich und wahrhaftig in Interaktion mit Menschen treten, die er bis dahin nicht kannte. Und seit dem Kommunikationszeitalter gilt das umso mehr.

Wir interagieren und kommunizieren also den Rest der Welt zu Tode, zuweilen auch unseresgleichen, wobei die Entfernung uns "die da" zuweilen recht fiktiv erscheinen lässt, weil jedem sein eigenes Hemdchen eben nach wie vor am allernächsten ist. Wenn "die da" ihr Leben nicht in den Griff kriegen, waren sie halt nicht fitt genug. Ganz in Darwins Sinne.

Wendehals zu sein, ist also womöglich, wahrscheinlich, ganz sicher Grundlage unseres Überlebens im rein praktischen, aber auch im psychologischen Sinne. Es wäre hochgradig ungeschickt, mitfühlend mit jedem zu sein; man würde unweigerlich zum Loser. Unter diesem Aspekt bekommt auch der viel gepriesene Altruismus eine völlig neue Bedeutung. Den haben nämlich auch blutsaugende Fledermäuse, die einander vom Blut abgeben, wenn eine andere mal keinen Erfolg hatte. Was für den Moment uneigennützig aussieht, wird jedoch - trotz der winzig kleinen Gehirne - peinlich genau aufgerechnet: Beim nächsten Mal wird das Blut zurück gegeben, auf das Miligramm genau. So bauen sich selbst einfachste Lebewesen ihre Netzwerke für den Fall, dass es mal nicht so läuft.

All das fiel mir ein, als ich neulich einen als meistgelesen deklarierten Blog las und mich angesichts der Kommentare hochgradig wunderte. Die gleichen Darsteller wie immer führten doch ganz andere Reden als sonst.

Was war geschehen?

Die Tücken der Technik (nehme ich an), hatten einen Blog aus dem letzten Jahr aufscheinen lassen als neu, so dass ich ihn las aus der heutigen Sicht und nicht wenig staunte über den Sinneswandel, den manche/r innerhalb eines Jahres erfahren hatte. Damals noch Streiter FÜR eine Sache, entpuppte sich manche/r inzwischen als Streiter dagegen.

Was war geschehen? Hatten die Leute schlimme Erfahrungen gemacht, selbst oder bei anderen gesehen? Hatten sie sich inzwischen informiert und noch einmal darüber nachgedacht?

Oder hatten sie nur die einfache Rechnung gemacht, dass ein Netzwerk umso nützlicher ist, je größer es ist? Gebe ich vielen etwas von meinem Blut ab, habe ich viele, die mir etwas schulden. Gebe ich vielen einen günstigen Kommentar ab, habe ich viele, die auch mich günstig kommentieren. Bin ich überhaupt auf der Seite der Vielen, kann ich mich stärker und besser fühlen, auch wenn ich mich imgrunde gar nicht verändert habe.

Am Ende bleibt dann nur die Frage:

Will ich als eine von Vielen mich ins Gemeinschaftsgefühl kuscheln, immer in der Hoffnung, es käme etwas für mich zurück?

Oder möchte ich zu allererst, neben ganz wenigen anderen, mir selber treu bleiben?

DAS wäre dann nämlich mal wirklich ein Unterschied zum Tier.

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