Die Schule gefällt Sebastian von Anfang an recht gut. Er lernt sehr schnell lesen, und schreiben, und beginnt mit acht Jahren damit, eigene Geschichten zu erfinden. Besonders viel Spaß macht es ihm, über „lebendig“ gewordene Küchengeräte zu schreiben. Nie macht er jedoch Anstalten, eine seiner Stories seinen Eltern, Großeltern oder möglichen Freunden vorzulesen. Er behält seine Fantasien ganz für sich, als hätte er Angst, ihnen verlustigt zu gehen, wenn er sie weiter erzählt.

Nach dem Unterricht geht er eine Weile in einen Hort. Dort kümmern sich sogenannte „Erzieher“ um die Kinder. Sollte einer dieser „Erwachsenen“ den Versuch unternehmen, ihm bei der einen oder anderen Hausaufgabe zu helfen, so lehnt er dies ab. Er möchte nicht, dass sich andere Menschen in seine Dinge einmischen.

Sebastian ist unglücklich im Hort. Da er mit seinen Eltern gegen Schulanfang wo anders hingezogen ist, muss er sich erst daran gewöhnen, weit von seinen Großeltern entfernt zu sein, die sich in den ersten sechs Jahren seines Lebens stets um ihn gekümmert haben.

Eines Tages steckt er irrtümlich ein Rechenbuch einer Klassenkameradin ein. Er bemerkt dies zunächst nicht. Erst am Abend, als er seine Schultasche inspiziert, fällt ihm das fremde Buch auf. Es passt nicht in sein Konzept, ein fremdes Ding in seinem Zimmer zu haben. Das macht ihn irgendwie nervös. Also versteckt er es hinter anderen Büchern, die ihm vertraut sind. Er will dieses Buch nicht sehen.

Zwei Tage später an einem Sonntag läutet das Telefon, und die Mutter von Cornelia möchte Sebastian sprechen.

„Weißt du vielleicht, wo das Rechenbuch von Cornelia ist, Basti?“

„Keine Ahnung“, sagt er lapidar.

„Wir suchen es überall, und es muß irgendein Kind irrtümlich eingesteckt haben. Ich hab´ schon überall angerufen, und niemand hat es. Wenn es verschwunden bleibt, werden wir ein neues kaufen müssen. Und es sind doch viele gelöste Hausaufgaben in dem Buch, die Cornelia wichtig sind...“

„Ich weiß nicht, wo das Buch ist“.

Sebastian legt auf, und geht in sein Zimmer. Bald taucht seine Mutter auf, und fragt ihn, was die Mama von Conny gewollt habe.

„Es ging nur um ein Buch. Soll verschwunden sein.“

„Und du weißt nicht zufällig, wo es ist?“

Er verneint, und schreibt eine neue Geschichte vom „Skelett Bingo“.

Das Rechenbuch ist hinter den anderen Büchern gut versteckt. Sebastian hat ein schlechtes Gewissen. Er weiß, dass er das Buch wieder zurückgeben sollte. Und es ist ihm unangenehm, im Besitz eines Rechenbuches zu sein, das ihm nicht gehört. Dennoch zögert er die Herausgabe des Buches immer wieder hinaus. Alle scheinen schließlich das verschwundene Buch vergessen zu haben. Cornelia hat bereits ein neues bekommen, als er das Buch aus dem Bücherregal fischt.

Drei Wochen nach dem Verschwinden des Rechenbuches überreicht er es kommentarlos an seine Mitschülerin. Sie macht große Augen, und schaut Sebastian erstaunt an. Da sie ein ähnlich ruhiges Naturell wie er hat, macht sie ihm keine Vorwürfe. Die bekommt er dann am nächsten Tag zu hören. Seine Mutter holt ihn aus seinem Zimmer, und erzählt ihm davon, dass die Mama von Cornelia ganz bestürzt gewesen sei. Warum habe der Schulkamerad von Cornelia so lange darauf gewartet, das Buch wieder zurück zu geben? Da wäre doch nichts dabei gewesen. Es kann schon passieren, dass ein Schüler unbedacht ein fremdes Buch einsteckt...

Sebastian kann nicht sagen, warum er das Buch nicht schnell wieder herausgegeben hat. „Es ist ein fremdes Ding“, sagt er nur, und der Spinat schmeckt ihm mal wieder nicht. „Was soll das heißen, Basti? Ein fremdes Ding? Ich meine; natürlich gehört es nicht dir. Gerade deswegen hättest du es ja sofort wieder zurückgeben sollen...“ „Ich konnte nicht. Es war mir unangenehm.“

Der Bub konnte das fremde Rechenbuch so lange nicht zurückgeben, weil er dafür mit Cornelia in Kontakt hätte treten müssen. Und das wollte er nicht. Er musste in seiner Welt bleiben, und die war durch das Buch gefährdet gewesen. Niemand außer Sebastian konnte sich daraus einen Reim machen. Das lag daran, dass er dieses Geheimnis für sich behielt. Schlimmer noch als der unübliche Kontakt mit Cornelia wäre es gewesen, einen Fehler zuzugeben. Davor hatte er den meisten Horror gehabt. Glücklicherweise ging die Geschichte glimpflich aus, und er erlangte bald wieder die notwendige innere Balance.

4
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

fishfan

fishfan bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:00

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:00

Kristallfrau

Kristallfrau bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:00

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:00

Noch keine Kommentare

Mehr von Jürgen Heimlich