Ich habe mit diesem Artikel gewartet. Ich wollte ihn nicht am „Tag danach“ veröffentlichen. Am Tag nach den schrecklichen Terroranschlägen in Brüssel, bei denen 30 Menschen ihr Leben verloren.

Dieser Beitrag ist kein Beitrag über den Schrecken des Terrors. Er ist kein Aufruf zur Solidarität. Er ist keine Klarstellung, was jetzt Sache ist. Keine Anweisung, wie das alles jetzt einzuordnen ist. Ich habe diese ganzen Beiträge satt. Sie machen mich krank.

Es geht mir gar nicht um die Terroristen an sich. Die sind zu verurteilen, und das ist mit Recht gesellschaftlicher Konsens. Es ist übrigens auch falsch, dass sich Muslime nochmal extra vom IS distanzieren müssen – jeder, der nicht beim IS ist, ist gegen ihn. Das ist anzunehmen. Nur, weil diese Schweine sich unter dem Deckmantel derselben Religion verstecken, sollten wir nicht von Muslimen verlangen, ihren Mist auch auszubaden. Oder wie viele von uns haben sich damals explizit von Breivik distanziert?

Mir geht es in diesem Beitrag eher um den gesellschaftlichen Umgang mit den Anschlägen. Müssen wir uns wirklich daran gewöhnen, dass es in unserer Umgebung, in unserem Europa, auf einmal kracht? Können wir wirklich nichts dagegen tun? Was ist denn jetzt mit dem Kampf gegen den Terror? Wirkt der noch irgendwann? Zeit, mit ein paar Scheinheiligkeiten aufzuräumen.

Die Doppelmoral der europäischen Außenpolitik(en)

Jedes Mal die gleiche Scheiße. Terroristen greifen uns an. Obwohl man uns immer sagt, die Aushöhlung unserer Freiheitsrechte würde das verhindern. Und dann kommen die immer gleichen Standardsätze. Politiker sprechen ihre Solidarität aus. Der Anschlag sei schärfstens zu verurteilen. Man wird sich – meistens noch mit dem scheinheiligen Zusatz „weiter“ – am Kampf gegen den Terrorismus beteiligen. Man werde nicht nachgeben.

Die Wahrheit ist eine ganz andere. Nach wie vor liefern auch europäische Staaten Waffen in Kriegsgebiete. Möglicherweise geschieht das in guter Absicht – weil man die „moderaten Rebellen“ bewaffnen will, um den IS ohne viel Commitment zu besiegen. Trotzdem verschulden die EU-Staaten den Tod unschuldiger Menschen – auch die österreichische StG 77 ist in Kriegsgebieten im Einsatz.

Am schlimmsten ist die Doppelmoral der EU, was Menschenrechte angeht. Die EU will gegen islamistischen Terror vorgehen, unterhält aber gleichzeitig hervorragende Beziehungen zu Saudi-Arabien – einem Land, das sich nur durch seine internationale Akzeptanz vom IS unterscheidet. In dem Religionskritiker ausgepeitscht und Regimekritiker geköpft werden. Mehr dazu habe ich schon mal in „Schluss mit der Scheinheiligkeit: Die besten Freunde der EU“ geschrieben.

Immer mehr Überwachung für nichts

Aber nicht nur das machen die Politiker der EU falsch. Nach jedem Anschlag kommt verlässlich der Ruf nach mehr Überwachung. Auch, wenn die Vorratsdatenspeicherung und Co. verfassungswidrig sind, hindert das die engagierten Minister – meist dem konservativen Lager zuzuordnen – nicht daran, diese freiheitseinschränkenden Maßnahmen immer wieder zu fordern.

So wurde auch in Österreich das Staatsschutzgesetz beschlossen: Ein großer Schritt in Richtung Überwachungsstaat. Dass auch europäische Geheimdienste uns quasi an die NSA ausliefern, erregte nur kurzzeitig eine politische Diskussion. Jetzt soll auch der 500 Euro-Schein abgeschafft werden – vielleicht, um ein generelles Verbot von Bargeld diskutieren zu können?

Und jedes Mal sagen uns die Politiker wieder: Das alles dient eurer Sicherheit! Wer nichts zu verbergen hat, muss sich auch nicht fürchten! Die ganze Überwachung dient nur eurem besten! Dass die Privatsphäre dafür auf der Strecke bleibt, ist für die meisten ein abstrakter Nebeneffekt. Vermutlich auch, weil die meisten Politiker nicht so vernetzt sind wie die junge Generation, die die Folgen noch härter zu spüren bekommt.

Die Datenmengen, die in Europa abgefangen und gespeichert werden, sind riesig. Und trotzdem schaffen es die Geheimdienste nicht – oder zumindest zu selten, denn wir wissen zugegebenermaßen wenig darüber, wie viele Attentate wirklich verhindert wurden –, Terroranschläge wie in Paris und Brüssel zu verhindern. Vielleicht liegt das daran, dass man bei so vielen Daten den Überblick verliert und die echten Verdächtigen untergehen. Vielleicht ist grenzenlose Überwachung einfach wirklich eine Scheißidee. Aber das ist ihnen egal. Unsere Freiheitsrechte werden weiter beschnitten werden.

Das Problem sind nicht die Hashtags

Am schlimmsten aber sind nicht mal die Politiker. Sondern alles, was danach vonseiten der „Zivilgesellschaft“ kommt. Der kollektive Umgang mit dem bedrückenden Gefühl, mit der eigenen Sterblichkeit und der Angst vor dem Fremden konfrontiert zu werden, kotzt mich dieser Tage vermutlich am meisten an.

Wir dürfen uns nicht damit begnügen, zu hashtaggen. Klar, ein #JeSuisCharlie tippt sich schnell und zeigt der Welt, dass man nicht alleine ist. Die psychohygienische Wirkung eines Postings auf Social Media darf man nicht unterschätzen – auch, wenn so mancher das schnell als billigen Aktivismus abstempelt.

Das Problem ist aber nicht, dass wir die Hashtags machen. Sondern dass wir uns damit zufriedengeben.

Regt euch auf, verdammt nochmal!

Die gerade von mir angesprochenen Scheinheiligkeiten in der tagtäglichen EU-Politik sind ein Problem. Sie sind vielleicht nicht direkt verantwortlich für die Anschläge von Brüssel, aber sie tragen auf jeden Fall ihren Teil dazu bei. Eine scheinheilige Politik, die vor allem auf Symbolik setzt, immer wieder auf Umfragen schielt und dabei den Gedanken an das bestmögliche Leben für alle außen vorlässt – das ist das große Problem unserer Zeit. Und das bezieht sich nicht nur, aber dieser Tage vor allem auf den Terrorismus.

Von mir aus können wir weiter hashtaggen, Plakate malen und uns auf Social Media bemühen, nicht allein zu sein. Aber das soll sich nicht nur am Tag danach abspielen. Und es soll sich nicht nur auf No-Brainer wie „Gegen Terror“ beschränken.

Wir müssen uns darüber aufregen, dass unsere eigenen Politiker mit ihrem Kurs sicherstellen, dass die Menschenrechte, die wir nach Paris eingeklagt haben, anderswo verletzt werden. Wir müssen uns positionieren in der Frage, wo wir zwischen Sicherheit und Freiheit stehen wollen. Und wir müssen dringend wieder politisch werden – und zwar 365 Tage im Jahr. Mischen wir uns wieder ein – auf dass wir irgendwann mitgewirkt haben, das nächste Brüssel verhindert zu haben.

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