Warum nur, warum nur hat Erdogan soeben alle Wahlkampfauftritte türkischer Minister in Deutschland abgesagt? Weil er fürchtet, damit endgültig den EU-Beitritt der Türkei verspielt zu haben? Lächerlich. Weil er Angst vor Merkel hat? Noch lächerlicher!

Erdogan weißt vielmehr, dass er bereits gesiegt hat. Dass seine Maßnahmen in den vergangenen Wochen und Monaten so effizient waren, dass alles andere nur überflüssig wäre. Also: Wir können ihm schon mal gratulieren. Die Türkei wird unter ihm endgültig zur Diktatur, so viel steht fest.

„Du benutzt Nazi-Methoden“, ruft Erdogan Angela Merkel noch hinterher. „Das sind Nachfahren der Nazis, das sind Faschisten“, erklärt er dann auch noch den Politikern der Niederlande. Beide hatten es gewagt, der autokratischen AKP („Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“) ihre europäische Wahlkampftour zu vermasseln. Literally what the Nazis did, oder?

Momentan ist die Diskussion um die Türkei, Erdogan und das Referendum am 16. April ziemlich aufgeheizt. Zeit also, ein paar Sachen klarzustellen.

1. Es gibt gar kein Recht auf einen Auslandswahlkampf

Wenn Erdogan sich bei der Forderung, seine Leute sollten im Ausland Wahlkampf machen dürfen, auf die Meinungsfreiheit bezieht, ist das zuerst mal ironisch. Denn Erdogan lässt kritische Journalisten einsperren, „säubert“ den öffentlichen Sektor von nicht-getreuem Personal und verbietet Wissenschaftlern schon mal im Voraus, das Land zu verlassen. Ungemütlichen Sendern wird die Lizenz entzogen, Demos werden niedergeschlagen. Haben die Verantwortlichen wirklich noch die Legitimation, von „Meinungsfreiheit“ zu sprechen?

Natürlich haben sie das. Man muss sich nicht auf das Niveau derer herabbegeben, die man kritisiert. Das ist genauso eine blödsinnige Argumentation wie „Wenn ich in Land X nicht in die Kirche darf, soll es bei uns auch keine Moscheen geben“. Der Punkt ist ein anderer: „Meinungsfreiheit“ bedeutet nicht „Freiheit, Wahlkampfveranstaltungen für die Innenpolitik eines anderen Landes abzuhalten“. Das Türkei-Referendum ist keine Sache, die in Europa diskutiert werden muss. Und schon jetzt gibt es die Möglichkeit, unerwünschte ausländische Politiker an der Einreise zu hindern.

2. Die Reaktionen Europas sind nachvollziehbar

Dass türkische Minister in Deutschland und den Niederlanden keinen AKP-Wahlkampf machen dürfen, ist absolut okay. Vor allem, weil es im Vorhinein angekündigt wurde. Wenn es kein Recht auf diese Besuche und Veranstaltungen gibt, darf sich Erdogan nicht wundern, wenn Gesetze auch eingehalten werden. Und wenn man einen anti-westlichen Kurs verfolgt, der die Werte der Aufklärung opfert und die Türkei zur Diktatur ummodelt, muss man sich über nicht ganz politisch wohlwollende Aktionen eigentlich nicht wundern.

3. Die Islamophobie-Keule zieht nicht

Viele Erdogan-Anhänger in Europa geben ihm unter anderem mit den Nazi-Sagern recht, da der EuGH vor Kurzem beschlossen hat, ein Kopftuchverbot in Unternehmen zu erlauben. Das gilt allerdings für alle Glaubenssymbole und muss mit Kundenkontakt oder ähnlichem argumentiert werden. Dass die EU deswegen islamophob ist oder dass das ein Zeichen gegen die Türkei sein soll, ist lächerlich. Ein Unternehmer muss eine verschleierte Frau nicht einstellen. That’s all, folks. Mit Vergeltung gegen die Türkei hat das genau null zu tun.

4. Europa muss aus der Abhängigkeit heraus

Als Reaktion auf die Politik europäischer Staaten will die Türkei jetzt das Flüchtlingsabkommen mit der EU wahlweise „aussetzen“ oder „neu verhandeln“. Und das ist eben das Ding: Mit unberechenbaren Staaten, die gerade auf dem Weg ins autokratische System sind, sollte man nicht verhandeln. Diesen Winter wäre höchste Zeit gewesen, ein eigenes Grenzsicherungssystem aufzubauen, damit die Türkei Flüchtlinge nicht mehr als Druckmittel verwenden kann. Europäische Quotensysteme inklusive Rettungsaktionen im Mittelmeer, sichere Aufnahmezonen etc. werden schon viel zu lang diskutiert, während man einem Typen wie Erdogan Geld für die Drecksarbeit zahlt. Das muss enden.

5. Mit wem man sich anlegt

Mark Rutte wurde sicher nicht nur, aber auch für seinen harten Kurs gegen die AKP belohnt. Und generell dürfte für einen Türkei-Beitritt ohnehin kaum jemand in Europa zu haben sein. Europa hat allen Grund, selbstbewusst gegen die Türkei aufzutreten. Ein Staat, für den Religion eine politische Kategorie ist, der Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit opfert, der Kritiker wie Terroristen behandelt und europäische Staaten als Nazis bezeichnet – den darf man als Gegner bezeichnen. Die Verhandlungen gehören schon lange abgebrochen, die Türkei politisch isoliert. Dann bleibt sie „eine Bande Halbstarker, die am Busbahnhof des Völkerrechts jeden fragt, ob er ein Problem hat.“ (© Moser)

Als ich anfing, mich für Politik zu interessieren, sah ich die Türkei noch als aufholenden Staat mit langfristiger Beitrittsperspektive. Heute ist davon nichts mehr übrig. Der Traum von Atatürk wird durch den Islam ersetzt, die Türkei zum autokratischen Willkürstaat mit einem extrem schwachen Parlament. Zumindest, wenn das Referendum am 16. April mit „Ja“ ausgeht. Zu wünschen ist es den Türken nicht – auch, wenn sie wohl ihre Gründe haben.

Drop of Light/shutterstock

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