Der Rutsch ins neue Jahr, er gelang nicht jedem.

Kaum hatte 2016 begonnen überschlug sich die Presse mit Berichten über Äußerungen des türkischen Staatschefs Erdogan.Dieser träumt noch immer von einer Verfassungsänderung, von mehr Macht und Befugnissen für sein Amt, von einer Präsidialherrschaft nach russischem Vorbild.

Zwar holte die AKP mit Ahmet Davutoglu, dem ehemaligen Außenminister und loyalen und treuen Anhänger Erdogans, die absolute Mehrheit und kann alleine regieren, für eine Verfassungsänderung jedoch, die auch Davutoglu anstrebt, bräuchte es eine Zweidrittel-Mehrheit und damit zusätzliche Stimmen der Opposition.

Wie mehrere türkische Medien berichteten, soll Erdogan auf die Frage, ob die Türkei zu einem Präsidialsystem umgebaut werden und dabei zentralstaatlich organisiert bleiben könne, geantwortet haben:

"Es gibt aktuell Beispiele in der Welt und auch Beispiele in der Vergangenheit. Wenn Sie an Hitler-Deutschland denken, haben Sie eines. In anderen Staaten werden Sie ähnliche Beispiele finden."

Dem Medienecho folgte prompt das Dementi, die Worte Erdogans seien aus dem Zusammenhang gerissen worden.Die ausführliche Begründung liest sich, laut FAZ, wie folgt:

„Erdogans Metapher über „Hitler-Deutschland“ sei von einigen Nachrichtenquellen verzerrt und ins Gegenteil verdreht worden, erklärte das Präsidialamt in Ankara. Mit seinen Bemerkungen habe er zeigen wollen, dass ein Präsidialsystem auch in einem Einheitsstaat existieren könne und nicht zwangsläufig ein föderales System brauche und dass weder ein präsidiales noch ein parlamentarisches System eine Garantie gegen Machtmissbrauch böten. „Wenn das System missbraucht wird, kann es zu einer schlechten Führung kommen, die in Katastrophen wie in Hitler-Deutschland enden.“ Wichtig sei eine gerechte Führung, die den Interessen der Nation diene. Es sei inakzeptabel, den Eindruck zu erwecken, Erdogan stelle Hitler-Deutschland in einem positiven Licht dar, erklärte das Präsidialamt…Es gab gute und schlechte Beispiele für Präsidialsysteme und es ist wichtig, eine Gewaltenteilung einzurichten. Nazi-Deutschland, wo die angemessenen institutionellen Regelungen fehlten, war offenkundig eines der schändlichsten Beispiele in der Geschichte“

Ob es den Hitler-Vergleich nun so oder anders gegeben hat, auch das Dementi hinterlässt einen schalen Nachgeschmack, denn für die Behauptung, dass „weder ein präsidiales noch ein parlamentarisches System eine Garantie gegen Machtmissbrauch bieten“, sowie für "das Fehlen von Gewaltenteilung" und "das Fehlen angemessener institutioneller Regelungen" ist sich Erdogan dieser Tage selbst Beweis genug.

Die Eckpfeiler der Demokratie, zu denen Gewaltenteilung wie auch Presse- und Meinungsfreiheit zählen, werden in der Türkei derzeit nach und nach ausgehebelt.

Unliebsame Journalisten und Kritiker werden mundtot gemacht, notfalls mit Klagen überhäuft oder gar sofort ins Gefängnis verfrachtet, wo sie auf unbestimmte Zeit ohne konkreten Termin für eine Anhörung auf ihr Verfahren warten.

So erging es dem Co-Vorsitzenden der Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas, gegen den derzeit wegen „verfassungsfeindlicher Äußerungen, Störungen der öffentlichen Ordnung und Anstachelung zur Gewalt“ ermittelt wird. Sein Vergehen? Forderung von Autonomie für die Kurdenregionen im Südosten. Nun drohen bis zu 24 Jahre Haft.

Can Dündar und der Hauptstadtkorrespondent Erdem Gül, unliebsame regierungskritische Journalisten der Cumhuriyet, von der Journalistenorganisation „Reporter ohne Grenzen“ zum Medium des Jahres ausgezeichnet, sind seit Ende November in Haft.

Ihr Vergehen: Sie berichteten über Beziehungen der Türkei zu Dschihadisten in Syrien. Die Anklage: „Spionage“ und „Verbreitung von Staatsgeheimnissen“. Ein Termin für den Prozess steht noch nicht fest. Dündar lässt sich nicht einschüchtern und schreibt vom Gefängnis aus weiter und auch die Cumhuriyet titelte trotz Drohkulisse: „Dreckige Beziehung mit dem IS an der Grenze“

Die Justiz, in einer gesunden Demokratie Korrektiv und Fundament eines funktionierenden Rechtsstaates, wird hier missbraucht, unliebsame Geister und Kritiker mundtot zu machen.

In gleichem Maße wird ihr die Handlungsfähigkeit entzogen, wenn es um Korruptionsverfahren gegen Personen in Regierungsnähe geht. Im Jahre 2013 wurde umfassend gegen diverse Minister, Immobilienhändler, Lokalpolitiker und andere Prominente aus dem Kreise der Regierung ermittelt.

Erdogan tobte.

„Eine zweite Durchsuchungswelle am 25. Dezember (2013) wurde vom Justizministerium gestoppt. Dann wurden die Chefermittler versetzt und durch Erdogan-treue Juristen ausgetauscht, mehr als 1000 Richter und Staatsanwälte sowie etwa 40 000 Polizeibeamte ihrer Posten enthoben.“

Das Verfahren wurde im Oktober 2014 eingestellt.

Die Staatsanwälte Zekeriya Öz, Celal Kara und Mehmet Yuzgec, die am Versuch der Aufklärung und Strafverfolgung in diesen Korruptionsfällen beteiligt waren und das Strafverfahren einleiteten, sind seit August 2015 auf der Flucht. Ihnen droht der Hochsicherheitstrakt wegen „Verschwörung gegen die Regierung“.

Human Rights Watch warnt:

“…die herrschende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) hat eine wachsende Intoleranz gegenüber Opposition, öffentlichem Protest und kritischen Medien bewiesen. Die Bemühungen, Untersuchungen wegen Korruption gegen die Minister und die Familie des Ministerpräsidenten einzuschränken haben ernsthaft die Unabhängigkeit der Justiz und des Gesetzes unterminiert…“

Amnesty International moniert in seinem Report 2014/2015 über die Türkei u.a. Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, Gewalt gegen Frauen, Folter und andere Misshandlungen, unverhältnismäßige Gewaltanwendungen durch die Polizei, Straflosigkeit bei Gewaltvergehen durch Staatsbedienstete, Missachtung der Rechte von Schwulen, Lesben und Intersexuellen, Unfaire Gerichtsverfahren, Missachtung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und, wie gerade prominent durch die Presse ging, menschenrechtsunwürdige Behandlung syrischer Flüchtlinge.

Und dann ist da selbstverständlich noch der Kurdenkonflikt.

War eine friedliche Lösung vor gut zwei Jahren noch das erklärte Ziel der AKP, ist davon spätestens seit Juli letzten Jahres keine Rede mehr. An der erneuten Eskalation schreiben sich beide Seiten gegenseitig die Schuld zu.

Für einige ist sie nichts als Wahl-Kalkül und Stimmenfang von Seiten Erdogans, so z.b. für den Staatsrechtler der Uni Ankaras und damaligen HDP-Kandidaten Midhat Sancar."Polarisierung braucht auch Kriegsmethoden - nicht immer mit Waffen, aber doch eine sehr gespannte Gesellschaft".

Andere hingegen, wie der Politikwissenschaftler Vahap Coşkun von der Dicle-Universität in Diyarbakir, sehen die PKK in der Verantwortung: "Sie hat den Weg der Konfrontation gewählt."

Offensichtlich jedoch ist, dass Erdogan die neuerliche Eskalation wie auch den Syrienkrieg als willkommenen Vorwand nutzt, um Kurdische Gebiete im Irak wie auch in Syrien zu bombardieren.

Nach all den Jahren EU-Beitrittsverhandlungen und Hinhaltetaktik vor allem durch die Kanzlerin, die sich selten so klar zu einer Richtlinie bekannte wie beim Thema türkischer EU-Beitritt, als sie diesen ausschloss um einer „privilegierten Partnerschaft“ den Vorzug zu geben, ist es ausgerechnet Merkel, die in Zeiten der zunehmenden Autokratisierung und klaren Menschenrechtsverstöße den Schulterschluss mit der Türkei sucht.

Und wieder ist dies eben dem kurzfristigen Denken geschuldet, das schon vor der Flüchtlingskrise mehr Probleme verursacht als gelöst hat. Die Türkei, als wichtiges Transitland, möge Deutschland doch bitte weitere syrische Flüchtlinge vom Hals halten, möge die Grenzen zu Europa dicht machen. Als Gegenleistung erhält die Türkei dafür Hilfen in Höhe von 3 Milliarden, die Zusage beschleunigter Beitrittsverhandlungen und einfachere Visa-Bedingungen für türkische Staatsbürger.

Nicht nur wird damit ein Land unterstützt, das die europäischen Werte und Vereinbarungen mit Füßen tritt und das mit seiner Integrationspolitik das Problem bestenfalls vertagt.

Amnesty International hat Mitte Dezember schwere Vorwürfe gegen die Türkei und ihr Vorgehen gegen Flüchtlinge erhoben, die vor Ort in „Haftzentren“ interniert und illegal wieder abgeschoben werden. Finanziert mit EU-Mitteln:

„Die Türkei stelle die Menschen vor eine unmenschliche Wahl, sagte die Asyl-Expertin der Menschenrechtsorganisation, Wiebke Judith. Entweder sie blieben auf unbestimmte Zeit in Haft oder sie kehrten in ihre Heimatländer Syrien und Irak zurück, wo ihnen Verfolgung, Folter und Tod drohten. Damit verstoße die Türkei gegen internationales Recht und handle im starken Kontrast zu ihrer bisherigen sehr humanitären Haltung.“

Ebenso schlimm ist wohl, dass sich die EU damit erpressbar macht.

Wie Jacques Schuster der „Welt“ schreibt:

„Für Ankara sind die Flüchtlinge ein geeignetes Mittel, je nach Bedarf Druck auszuüben. Benötigt die Regierung mehr Geld, wird Erdogan einfach mehr Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Iran Richtung Europa durchlassen. Irgendwann wird die EU schon genötigt werden, sich in Ankara mit neuen Geschenken zu melden. Schließlich bleibt ihr nichts anderes übrig.“

Nicht abwegig. Schon im September konnte man Erdogan Kalkül unterstellen:

„Anfangs tat die Türkei alles, was sie konnte, um zu verhindern, dass die Seewege für die illegale Einwanderung nach Europa genutzt werden.“ Das habe sich aber geändert: „Die Türkei hat beschlossen, die Dinge schwierig zu machen für Europa, indem es einen Teil des Drucks weitergibt.“ So hört man es auch von Kolumnisten in Ankara und Istanbul. Enttäuscht von einer Welt, die seinen Ideen zur Befriedung Syriens nicht folgen will (Kampf gegen Assad zuerst, Einrichtung einer Pufferzone in Nordsyrien), habe sich Erdogan dazu entschlossen, die Flüchtlingsmassen nach Europa weiterzuleiten. Wer nicht hören will, muss aufnehmen. Das funktioniert natürlich nur, weil die Menschen auch tatsächlich unbedingt fortwollen aus Erdogans Land.“

Lange galt die Türkei dem Westen als Hoffnungsträger, Bindeglied westlicher Werte und islamischer Kultur und Brücke zur arabischen Welt.

Die Europäisierung, die Mustafa Kemal Atatürk für die Zukunft der Türkei im Sinn hatte, als er die Republik gründete, den Grundstein für die Säkularisierung des Landes legte, Emanzipation stärkte und das Frauenwahlrecht einführte, die am Koran orientierte Rechtsprechung zugunsten einer Mischung aus Schweizer Zivilrecht, deutschem Handelsrecht und italienischem Strafrecht aufgab, das Bildungssystem reformierte und an Schulen auf arabische Schrift zugunsten der lateinischen verzichten ließ, sie trug viele Jahrzehnte Früchte.

Aber die Türkei hat sich unter Erdogan verändert. Sie ist dabei, sich von Laizismus, Demokratie und Bürgerrechten zu entfernen und in dem Maße, in dem sie dies tut, muss ihr eine EU, der noch ein wenig an der eigenen Idee einer „Wertegemeinschaft“ gelegen ist, entgegentreten.

Auf lange Sicht steht die eigene Handlungsfähigkeit wie auch die eigene Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 03.01.2016 22:39:54

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