Völlig wurscht, was ich schreibe, oder?

In letzter Zeit mache ich mir Gedanken über das Phänomen der kognitiven Dissonanz. Einmal, weil mich die etwas beschränktere Fraktion meiner Leser_innen (das sind die, die sich über die Fremdwörter in meinen Krimis beschweren, aber immerhin lesen sie) fragen, "ob ich das alles selbst erlebt habe". Dann, weil manche Leserinnen meiner Autobiographie selbstverständlich annehmen, dass ich das so nicht erlebt habenkann.

In beiden Fällen handelt es sich um kognitive Dissonanz.

Die Annahme, ich hätte die Situationen in den "Fetzer" Krimis selbst erlebt, würde mich mehrfach für die Schwarzau qualifizieren. Eine Erfahrung, die ich nur sehr ungern machen würde. Nicht einmal für einen guten Krimistoff säße ich gern in einem Frauengefängnis ein! Aber es ist schön, dass Leserin und Leser die Story für so wahrhaftig halten, dass sie mir zutrauen, einfach eine Erinnerung aufgeschrieben zu haben.

Der weitaus größere Teil meiner Leser genießt den Subtext - das Psychogramm eines zerissenen Typen, die Miniaturen des täglichen Lebens, die Mimikry des Biedermanns, die gewöhnliche Schlechtigkeit der Welt. Jeder erkennt irgendwen wieder - den Nachbarn, einen Freund - aber bloß nicht sich selbst. (Lasst mich einfach Horaz zitieren: mutato nomine/ de te fabula narratur!) Der Krimi ist der Gesellschaftsroman des 21. Jahrhunderts.

Am spannendsten findet die Leserschaft offenbar die Jagd nach den beschriebenen Lokalen. Sind die wirklich so? Gibt es die Gäste wirklich? Natürlich gibt es die Lokale, und selbstverständlich sitzen genau diese Gäste dort - aber ich habe die Freiheit der Schreibenden genutzt und Lokale und Gäste vermischt. Ein Lokal ist immer wieder Schauplatz der Story. Der Grund ist schreibtechnisch: Nie muss ich mir überlegen, wieviele Schritte es zur Bar sind, nie nachdenken, ob man einen Gast in einer Ecke auch tatsächlich sehen oder belauschen kann - ich weiß es einfach. Das Lokal existiert vor meinem geistigen Auge, ist klein genug, um alle Situationen, die ich brauche, beschreiben zu können und ich habe ein Körpergefühl für dessen Einrichtung, weil ich es oft genug besucht habe.

"Herzlos", die pornographische Autobiographie, löst völlig andere Reaktionen aus. Die Journalistin, die mich vor einige Tagen interviewt hat, sprach von meinem persönlichen Mut, so schonungslos gegenüber mir selbst zu sein. Dazu brauche es keinen Mut, antwortete ich. Viele Leserinnen ziehen es vor, die Erinnerung zur Fiktion zu erklären - weil sie anders damit nicht umzugehen vermögen vermutlich. Bei der Präsentation wurde ein Freund Zeuge folgenden Dialogs: "Glaubst, dass die das wirklich erlebt hat? " "Na niemals!" Gut so. Literatur gehört, sobald sie gedruckt ist, ohnehin nicht mehr dem Autor - sie unterliegt der Interpretation des Rezipienten, bekommt einen eigenen, möglicherweise nicht intendierten Subtext und das Buch spricht mit anderen und über andere Bücher...

Ein Musterbeispiel an kognitiver Dissonanz ist eine Cousine von mir - sie meinte nach dem Lesen, dass sie mir "das nicht abnehme" und sprach mir damit mein eigenes Leben ab, oder zumindest die korrekte Erinnerung an die Ereignisse - obwohl sie zumindest drei der Protagonisten genau und lange kennt...

Ich bin ja auf die nächste Woche gespannt - eine Kollegin hat "Herzlos" einer anderen geschenkt. Und zwar der Person, die laut eigener Aussage keine Krimis liest, "weil sie sich immer so fürchtet". Na da wird "Herzlos" ja genau die richtige Lektüre sein, oder? Die arme Frau wird nie wieder ein Haushaltsklebeband unvoreingenommen in die Hand nehmen können, geschweige denn eine Kluppe.

Wie diese Lektüre ihr Leben verändern wird, ist nicht abzusehen - könnte aber fast schon wieder eine eigene Geschichte werden...

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mr_mir@live.de

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utopia

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Johnny

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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