1,7 Millionen Gründe, misstrauisch zu sein

Die erste Frage, die ich mir stellte, war diese: Woher haben die Russen und Chinesen überhaupt diese Dateien? 1,7 Millionen Dokumente, heißt es, die Edward Snowden, der weltberühmte NSA-Whistleblower, gestohlen hat, sollen von russischen und chinesischen Hackern geknackt worden sein. Das wurde in Großbritannien vermeldet, und weltweit griffen Medien die Nachricht auf. Das Dementi von Edward Snowdens engem Vertrauten, dem Informationsaktivisten und Journalisten Glenn Greenwald, folgte auf dem Fuße: Die Vorwürfe seien ein Witz.

Ob die Geschichte stimmt, ob also wirklich 1,7 Millionen Dateien von Russen und Chinesen entschlüsselt und deren Inhalt gegen die westliche Welt eingesetzt werden kann, das werden wir kleinen Leute wohl nie erfahren. Aber die Diskussion treibt Fragen an die Oberfläche meines Bewusstseins, die ich bisher nicht so recht zulassen wollte. Fragen wie diese:

Musste Edward Snowden eine Gegenleistung erbringen für sein sicheres Leben in Moskau?

Oder diese:

Kassierten die Chinesen Teile der von Snowden gestohlenen Daten, als dieser in Hongkong festsaß, noch nicht klar war, welches Land ihm Asyl gewähren würde und ihn die Behörden dann anstandslos ausreisen ließen?

Ein Gefühl des Unbehagens macht sich breit. Edward Snowden zweigte nach eigenen Angaben ja tatsächlich Millionen von Datensätzen ab, die er einem, wie er sagte, guten Zweck zuführte: die Welt über die Machenschaften des US-Geheimdienstes NSA und seiner Verbündeten in der westlichen Welt zu informieren. Dafür applaudierten wir ihm, nannten ihn einen mutigen Kämpfer für die Wahrheit, einen Helden der Demokratie. Tatsächlich haben wir über einige Dinge Sicherheit erlangt, was bis dahin nur Gegenstand von Vermutungen war: dass westliche Geheimdienste sich mitunter auch außerhalb des Rechtsraums bewegen und unsere Bürgerrechte ausgehöhlt werden, wenn wir nicht aufpassen.

Was wir nicht erfuhren, war, wie die erklärten Gegner der NSA operieren. Die Russen. Die Chinesen. Mächte, die Demokratie für eine Lacksorte halten. Und jetzt diese Behauptung: 1,7 Millionen von Snowden gestohlene Dateien, von russischen und chinesischen Hackern im Auftrag ihrer jeweiligen Regierungen geknackt – und damit militärische und andere Geheimnisse der USA und anderer westlicher Geheimdienste! Eine offene Flanke im Westen! In Lebensgefahr befindliche Agenten!

Ich habe Edward Snowden stets für einen mutigen Menschen gehalten. Ob seine Aktion sinnvoll war, darüber wollte ich mir kein Urteil erlauben, im Grunde aber fand ich es wichtig, dass Regierungen nicht im Glauben leben, ihre Taten blieben ohne Folgen. Dass die Vereinigten Staaten sich in ihrer Geheimdienstarbeit am Rande und außerhalb des Rechtsraumes bewegen, dass manche Gesetze geeignet sind, die Freiheit der Bürger zu beschneiden, diese Information an die Öffentlichkeit zu bringen und darüber zu diskutieren, war wichtig. Öffentlicher Druck führt zu Veränderung – wie etwa zum Ende des Patriot Act, der die Ausspähung von US-Bürgern legal machte – oder auch schlicht dazu, dass US-Agenten angewiesen sind, sich „besser zu benehmen“, wie jemand aus dem Dunstkreis der amerikanischen Regierung mir gegenüber einmal launig formulierte. Jetzt muss ich mich fragen: Selbst, wenn an der Meldung um die „1,7 Millionen“ nichts dran ist – was hat Snowden am Ende tatsächlich bewirkt? Ist Schwarz-Weiß-Malerei in dieser komplizierten Welt überhaupt möglich, bewirkt Gutes nicht zwangsläufig auch Schlechtes? Und wenn ja, für wen?

Es gibt 1,7 Millionen Gründe, wachsam zu sein und zu bleiben. Die Vorstellung, dass ich mit meiner Unterstützung des Edward Snowden-Gedankens womöglich jenen Mächten in die Hände spielte, die noch viel schlimmer sind als die Amerikaner, wenn es um Bürgerrechte und Freiheit und Demokratie geht, verunsichert mich. Die Möglichkeit, dass von den Protagonisten der NSA-Affäre eine klare politische Agenda verfolgt wurde, nämlich die bereits unsympathischen USA zugunsten ihrer furchterregenden Konkurrenten auf der Weltbühne zu schwächen, wie jetzt spekuliert wird, die will ich mir hingegen gar nicht erst ausmalen. Edward Snowden, ein Spion? Das wünsche ich mir nicht. Lieber wäre mir, er ist jemand, der mit seiner gut gemeinten Aktion das Machtgefüge in der Welt verschoben hat. Aber möglicherweise in die falsche Richtung.

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Erkrath

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Richard Krauss

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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