Gerhard Rat hatte Glück bitter nötig. Gerhard Rat war ein Unglückswurm, wie es - so bleibt zu hoffen - wenige gibt. Kaum etwas von dem, was er anfing, fügte sich je zu einem glücklichen Ende. Vielmehr schien es, als liebten die Dinge Gerhard nicht, als entzögen sie sich seiner Handhabung, wo immer sie konnten - und sie konnten oft. Klar, daß mit der Zeit auch Gerhard seinerseits die Dinge zu hasse begann, so daß niemals ein wirklich ersprießliches Verhältnis zwischen ihm und dem Kosmos entstehen mochte.

In seiner Jugend war Gerhard Rat das gerade Gegenteil von Peter Pan gewesen. Peter Pan - Sie kennen die Geschichte? - hatte beschlossen, niemals erwachsen zu werden; ein Junge wollt' er bleiben, bis er stürbe, dermaleinst und jugendfrisch. Für das "Gerhardili" hingegen, wie sein unseliger Vater den jungen Gerhard bis weit über die Volljährigkeit hinaus zu nennen pflegte, hatte das Älterwerden und Erwachsensein gar nicht schnell genug gehen können.

In der Schule war er "Ratatat" gerufen worden, was zum einen an seinem Namen lag, zum anderen daran, daß er schnell und hektisch sprach, ein semantisches Maschinengewehr. An diesem Spitznamen änderte sich auch nichts, als ihn seine Eltern mit zehn Jahren in's Humanistische Gymnasium übertraten.

Nach einem Urlaub mit den Eltern an der Côte d'Azur hatte Albert Kruschwitz aus der Fensterreihe damit begonnen, Gerhard "Ratatouille" zu rufen. Eine Gewohnheit, die sehr bald von allen - Gerhard ausgenommen - begeistert angenommen wurde. Selbst jene wenigen, die es vermocht hätten, vermieden dabei die korrekte Aussprache des Eintopfgerichtes, schlossen vielmehr mit einem harten und speienden "tui". Der Spitzname "Rata-Tui" blieb an Gerhard haften bis ins sechzehnte, siebzehnte Lebensjahr, bis die Geschichte mit Bruno Ascherl den Dingen eine neue Wendung gab.

Bruno Ascherl lebt heute als angesehener Rechtsanwalt im Fränkischen und hat gut lachen. Damals aber hatte Bruno genugsam darunter zu leiden, daß ihn der ganze, selten ordinäre Haufe "Brunzo Arscherl" rief. Nach einem Kinobesuch - einer Filmkunst-Matinée, man denke - hatte es Bruno, der es besser hätte wissen müssen, rasend geistreich und ungeheuer witzig gefunden, Gerhard mit "Professor Unrat" anzusprechen. Der eher schmächtige und entschieden kleingewachsene Bruno, der die Regeln kannte und also nichts anderes erwartet hatte, nahm es mit einem schmerzlichen Seufzen hin, daß er für sein "Unrat"-Rufen von Gerhard verdroschen wurde. Erst als Gerhard eine zufällig herumliegende Latte ergriff und mit ihr in stummer Wut auf Bruno eindrosch, zerbrach das stillschweigende Einverständnis.

Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß Gerhard Rat die Jahre, da er den verschiedenen Spitznamen seiner Altersgenossen ausgeliefert war, schnell hinter sich bringen wollte; daß er sich danach sehnte, als Erwachsener endlich und respektvoll mit "Herr Rat" angeredet zu werden.

Nun begab es sich aber, daß Brunzo Arscherl noch am selben Tage an den Folgen der erwähnten Prügel fast verschiedenen wäre; sieben bange Wochen lag er auf den Tod. Gerhard Rat wurde der gefährlichen Körperverletzung angeklagt und mußte, da dies die dritte Straftat dieser Art war, ins Jugendgefängnis von Niederschönenfeld einfahren.

Damals, als Bruno mit dem Tode rang, schwebte eine Zeitlang über Gerhards Haupt der Dichterlorbeer. Das kam, weil Gerhard im Grunde seiner Seele ein ungemein sensibler Mensch war. Der Psychologe, der ihn für die Verhandlung zu begutachten hatte, maß seinerzeit einen Wert von immerhin 9 (neun!) Sensi-Bel auf der nach oben offenen WECKER-Skala. Diese Empfindsamkeit, verquirlt mit einem zureichenden Schöpfer Sprachgefühl hatte Gerhard schon früh zum Schreiben von Gedichten verleitet. Als sein Fall durch die Schlagzeilen gellte, hatte eine große Illustrierte - vermutlich durch eine gezielte Indiskretion von Gerhard selbst - von den auf Halde liegenden Dichtstücken Wind bekommen.

Innige Verse eines eiskalten Totschlägers! Ha!!

Einfühlsame Poesie eines knallharten Killers! Heißa!!

Einige Tausender hatten die fixen Jungs vom Bilderblatt bereits über den Tisch geschoben, als die traurige Nachricht von Brunos endgültiger Genesung die Runde machte. Auf die Lyrik eines Körperverletzers aber ist geschissen, zu übermächtig ist die Konkurrenz dichtender Mörder.

Nun auf einmal - und ganz unvermittelt - warf der Oberredakteur Berger mit unbarm­herziger Strenge die Qualitätsfrage auf.

Niemand könne, so ereiferte sich Berger in der Redaktionskonferenz, einer auf Niewoh bedachten Zeitschrift wie seiner...

...an dieser Stelle von Bergers Ausführungen entschlüpfte dem Freien Mitarbeiter Riemerschmidt, der die Hauptlast der Recherchen im Fall Rat getragen hatte, ein Lächeln; was ihn Monate später, unter einem fadenscheinigen Vorwand seinen Freien-Mitarbeiter-Ver­trag kostete...

 ...niemand also könne ihm, Berger, zumuten, die Gedichte dieses...

...dieses Menschen abzudrucken.

"'Trilogie der ausfransenden Symmetrie' - daß ich nicht lache", lachte Ober­redakteur Berger höhnisch und meinte damit Gerhard Rats "Trilogie der ausfransenden Symmetrie", die hier im Text versteckt eingefügt ist. Und ob jeder hier in der Konferenz schon mal das Wort "Manierismus" gehört hätte? Und wenn ja, ob er dann auch wüßte, daß er - Berger - auf Manierismus - jedweden Manierismus gleich welcher Art - scheiße?

Wie Berger sagte, also geschah es. Keine Zeile von Gerhard wurde gedruckt. Keine. Kein Ruhm, kein nichts, nur Knast. Und im Knast hatte natürlich niemand etwas mit "Herr-Rat"-Komplimenten am Hut, auch nicht, als Gerhard volljährig wurde und schließlich erwachsen. So kam es, daß Gerhard Rat in eingeschränkter Umgebung seinen letztgültigen Spitznamen verpaßt bekam: "DIE RATTE".

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