Seit geraumer Zeit habe ich die allsonntägliche Briefkolumne von Prof. Dr. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung abonniert. Den heutigen Brief möchte ich euch nicht vorenthalten.

Sehr geehrter Herr Heinrich,

es geht um Briefe aus der Vergangenheit. Ein Dokumentarfilm, der jetzt in siebzig Städten der Bundesrepublik gezeigt wird, erinnert an ein Verbrechen gegen migrantische Familien, begangen heute vor dreiunddreißig Jahren in der schleswig-holsteinischen Stadt Mölln: Am 23. November 1992 wurden dort drei Mitglieder der Familie Arslan ermordet: Die Schwester, die Cousine und die Großmutter von Ibrahim Arslan kamen bei einem neonazistischen Brandanschlag auf das Haus Ratzeburger Straße 8 ums Leben. Ibrahim Arslan, eine Hauptfigur des Films, damals sieben Jahre alt, überlebte das Attentat, weil seine Großmutter, bevor sie selber starb, noch ein nasses Bettlaken über ihn warf. Der Film handelt von den Reaktionen des Staats und der Gesellschaft auf das Attentat.

Die Briefe, die nie ankamen

Der Film heißt „Die Möllner Briefe“. Im Mittelpunkt steht nicht der sogenannte Nikolauskompromiss, mit dem die Politik damals auf das Verbrechen von Mölln reagierte – und mit dem damals, nach jahrelangem politischem Streit, das alte Asylgrundrecht abgeschafft wurde. Im Mittelpunkt stehen die vielen berührenden Beileids- und Solidaritätsbriefe aus der deutschen Bevölkerung, die damals an die Familien Arslan geschrieben wurden – es sind fast tausend. Es sind dies Briefe voller Mitgefühl und Sympathie für die Opfer, darunter viele Bilder, die Kinder gemalt haben: „Von Anneke für Ibrahim Arslan“. Es sind auch Briefe mit Hilfsangeboten, einem liegt ein Zwanzig-Mark-Schein bei. Das Besondere und das Bedrückende daran ist: Die Briefe haben die Adressaten nie erreicht. Sie wurden nicht zugestellt, die Verwaltung der Stadt Mölln hat sie einbehalten und archiviert.

Der Dokumentarfilm der Regisseurin Martina Priessner begleitet den heute vierzigjährigen Ibrahim Arslan dabei, wie er drei Verfasserinnen der Briefe aufsucht, um sich bei ihnen zu bedanken; er hat erst vor ein paar Jahren von der Existenz der Briefe erfahren. Die Regisseurin begleitet ihn bei seinen Recherchen, sie begleitet ihn bei seinen Versuchen, bei den Repräsentanten der Stadt Mölln Auskunft darüber zu erhalten, warum man die Opfer nichts von der Solidarität aus der deutschen Bevölkerung hat spüren lassen. Auf manchen dieser Briefe stand als Anschrift zwar nur „An die Familien der getöteten türkischen Mitbürger“. Aber es wusste ja jeder und jede, wer gemeint war, erst recht in Mölln. Die Verwaltung interessierte das offenbar nicht. Die Unterschlagung der Briefe ist bezeichnend für eine politische Grundstimmung. Ibrahim Arslan sagt heute, wie sehr es ihm und seiner Familie geholfen hätte, wenn sie die ausgestreckten Hände gespürt hätten. Die anderen, die giftigen Briefe waren damals an die politischen Parteien, sie waren auch als Leserbriefe an Zeitungsredaktionen gerichtet – sie fanden ihr Echo.

Die im sogenannten Nikolauskompromiss eingeleitete Grundgesetz-Änderung war dann die unmittelbare politische Reaktion auf die ausländerfeindlichen Verbrechen vom November 1992 in Mölln und zuvor schon in Rostock-Lichtenhagen; diese Grundgesetz-Änderung wurde sozusagen im Schein der dort angezündeten Häuser geschrieben. An dem Tag, an dem dies beschlossen wurde, demonstrierten in München 400 000 Menschen gegen den Ausländerhass – die Münchner Lichterkette war die erste große Lichterkette in der Demonstrationsgeschichte der Bundesrepublik. Am 26. Mai 1993 wurde dann mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag das Asylgrundrecht geändert. Drei Tage später, in der Nacht auf den 29. Mai, legten vier junge Rechtsextremisten Feuer im Haus der Familie Genç in Solingen; fünf Frauen türkischer Abstammung kamen ums Leben. Auf dem Weg zum Tatort in Solingen las Heiko Kauffmann, der damalige Vorsitzende von Pro Asyl, den dort auf eine Hausmauer gesprühten Satz: „Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch.“

Ich wünsche uns allen die Nachdenklichkeit, die der Film über die Möllner Briefe auslöst.

Ihr

Heribert Prantl

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