Gedichte sprechen in ihrem Kern von Schönheit und von Einsamkeit. Und für mich liegt beides in den Bergen.

Kennt ihr das Gefühl:

Du stehst vor einem Hohlweg, durch die Bäume dringt gedämpftes Licht und Du siehst Dich um.

Längst vergessene Bilder fallen Dir ein. Von Zwergen, vom Hutzelmännchen oder einem Waldschrat. Dutzende Erinnerungen aus Deiner Kindheit, an lang verflossene Tage und Freuden.

Du scheinst der Welt entrückt und für einen Augenblick weißt Du nicht, woher Du kommst oder wer Du bist.

Und dann gehst Du los.

Du machst den ersten Schritt und Glück strömt durch Deine Adern.

In den Bergen liegt Schönheit, in jedem Augenblick, doch wir werden sie nie fassen.

Denn sie sind uns feindlich gesinnt.

Sie gehen alleine ihren Weg durch die Jahrtausende und bemerken kaum unseren hastigen Schritt.

Gibt es für uns eine größere Feindschaft?

„Ein Berg ist für mich ein Buddha, weißt Du. Denk an die Geduld, Hunderttausende von Jahren nur so dazusitzen und völlig, völlig still zu sein …“ 1

In den Bergen spürst Du die Einsamkeit. Niemand, der Dich sieht, niemand, der sein Wort an Dich richtet. Keine fremde Hand die nach Dir greift.

Aber auch kein Geräusch das Dich aufschrecken lässt. Keine Menschen, keine Autos oder Handymelodien. Nur Stille. Stille.

Es ist so leise, dass Dir Dein Herzschlag in den Ohren dröhnt.

Und in dieser Stille beginnen die Steine zu sprechen.

Denn die Berge sind ein Ort für Dichter.

Früher lief ich hastig durch die Wälder und erstieg jeden Berg so schnell es ging. Immer abseits der Wege, bei jedem Wetter und lang nach Sonnenuntergang.

Um zu sehen, was noch keiner vor mir sah.

Und trotzdem blind.

Doch die Dichter können uns die Augen öffnen.

„Der Sperling hüpft die Veranda entlang. Seine Füße sind nass.“ 2

Seht ihr es?

Dichtung. Dichtung wie ein alter, verkrüppelter Baum, der sich seit hundert Jahren an einen Berghang krallt.

Ein bleiches Gerippe, das uns die Augen öffnet.

Früher war ich in den Bergen einsam.

Niemand teilte meine Sehnsucht. Nach den Worten, nach Freundschaft oder der Sonne auf einem heißen Fels.

Aber in Kerouacs Buch lernte ich sie kennen: Han Shan, Shiki, Japhy und John Muir. Und die Zen-Besessenen Dichter Amerikas.

Ich erfuhr, dass es irgendwo da draußen Menschen gab, die mich verstanden.

Und dadurch verlor ich meine Einsamkeit.

Irgendwo da draußen sind sie noch immer.

Die Menschen, die in den Bergen klettern. Die Menschen, die sich von der Welt fernhalten. Die in alten Wirtshäusern sitzen und mit den Mädchen lachen.

Die Menschen, die Wein trinken, sich in ihren Träumen verlieren, gehüllt in alte Jacken und einem Hauch von Freiheit.

Ohne Smartphone. Ohne Youtube oder Videodreh. Denn sie wollen weder berühmt noch reich sein.

Sondern einfach „Sein“.

Und irgendwo da draußen sind auch noch die Dichter.

Nicht die Wortverdreher die zwischen Fernsehen und Smartphone ein paar Zeilen aufs Papier schmieren, mit leerem Herz und ohne Kraft.

Sondern Menschen wie Ranke-Graves, Han Shan oder Thoreau, die in die Einsamkeit gingen um von dort aus mit ihren Pfeilen direkt auf unser Herz zu zielen.

Kerouac fand sie an der Westküste Amerikas. Und er endete mit einem Herz voller Gedichten auf „Desolation Peak“, dem Berg der Einsamkeit.

Wenn wir Glück haben, finden auch wir diesen Ort.

In der Einsamkeit unserer Träume, aus der wahre Schönheit entspringt.

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Wenn ihr mehr davon lesen wollt, mein Blog ist jetzt neu aufgesetzt und es gibt dort einiges zu lesen: Der Leiermann

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1 J.Kerouac, „Gammler, Zen und hohe Berge“ in der Übersetzung von Werner Burckhardt

2 Masaoka Shiki, Haiku in der Übersetzung von Werner Burckhardt

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zeininger karin

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