„Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.“

„Ideen stören, was es ohne sie gar nicht gäbe.“

„Letztlich ist der Tod auch nur der Beginn von Folgeerscheinungen.“

Nicht nur mit diesen philosophischen Aphorismen beweist Robert Menasse, dass er in die Fußstapfen von Robert Musil getreten ist, sondern auch mit dem Fundamet und dem Gerüst, das er seinem Roman gegeben hat. Musil hat mit seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ (MoE) Philosophie und Dichtung vereint und damit dem Zeitgeist der KuK-Monarchie, der im Fin de Siècle ein letztes Mal aufblühte um endgültig zu verblühen, ein Denkmal gesetzt. „Die Hauptstadt“ ist ein Denkmal, das der EU gewidmet ist. Es ist ein Denkmal für eine Epoche, die blüht. Derzeit noch.

suhrkamp.de https://www.suhrkamp.de/mediathek/robert_menasse_spricht_ueber_die_vorgeschichte_zu_die_hauptstadt_1416.html

Zeitbedingt ersetzt Menasse Wien durch Brüssel, KK durch EU. Und es geht auch bei Menasse um die zündende Idee für eine Jubiläumsfeier, die als Parallelaktion konzipiert ist. Die Geburt der Idee beschreibt Musil so:

„Dr. Paul Arnheim war nicht nur ein reicher Mann, sondern er war auch ein bedeutender Geist. Sein Ruhm ging darüber hinaus, daß er der Erbe weltumspannender Geschäfte war, und er hatte in seinen Mußestunden Bücher geschrieben, die in vorgeschrittenen Kreisen als außerordentlich galten. … Arnheim verkündet in seinen Programmen und Büchern noch dazu nichts Geringeres als gerade die Vereinigung von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Macht. … Arnheim wurde entzückt, als er in Diotima eine Frau antraf, die nicht nur seine Bücher gelesen hatte, sondern als eine von leichter Korpulenz bekleidete Antike auch seinem Schönheitsideal entsprach, … 'man müßte -' hatte sie gesagt, und Arnheim unterbrach sie: Das sei ganz wundervoll; 'neue Ideen oder, wenn es erlaubt sei zu sagen (hier seufzte er leicht), überhaupt erst Ideen in Machtsphären zu tragen!' Und Diotima war fortgefahren: Man wolle Komitees aus allen Kreisen der Bevölkerung bilden, um dieses Ideen zu ermitteln. … Bis hierher hatte sich Diotima des Gespräch wörtlich wiederholt, aber an diesem Punkt löste es sich in Glanz auf; … Ein unbestimmtes, spannendes Glücks- und Erwartungsgefühl hatte sie die ganze Zeit über immer höher gehoben; nun glich ihr Geist einem ausgekommenen, kleinen, bunten Kinderballon, der herrlich leuchtend hoch oben gegen die Sonnen schwebt. Und im nächsten Augenblick zerplatzte er. Da war der großen Parallelaktion eine Idee geboren, die ihr bis dahin gefehlt hatte.“

Die Geburt der Idee beschreibt Menasse so:

„Das Big Jubilee Project. … Es war Mrs Atkinsons [Generaldirektorin der DG KOMM] Idee gewesen. Fenia Xenopoulou war die Erste, die darauf reagierte – und das Projekt rasch an sich zog. Das gehörte ins Kulturressort, fand Fenia, keine Frage. Das war die Chance, auf die sie gewartet hatte, um Visibilité zu zeigen. … Mich interessiert die Sache nicht, hätte Martin am liebsten gesagt. Er beschloss, ganz einfach allen recht zu geben, um sich nicht zu exponieren. In Anbetracht der Bedeutung dieser Angelegenheit, sagte er in Richtung Fenia, sei klar, dass – und nun in Richtung Bohumil: - die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden dürfen. … Es habe keine andere Idee gegeben als diese: anlassbedingt ein Jubiläum zu feiern. Aber der Anlass allein sei eben noch keine Idee. … So war Martin Susman in die Falle getappt. Nach einigem Hin und Her sagte Fenia Xenopoulou: Schluss jetzt, der Einzige, der sich offenbar Gedanken gemacht habe, sei Martin. Es sei absolut logisch, was er gesagt habe. Das Um und Auf sei eine zentrale Idee. Sie beauftragte Martin, die Idee zu entwickeln und ein entsprechendes Papier zu schreiben.“

Musils „Ulrich“ heißt bei Menasse „Martin“, er ist österreichischer Beamter in der Kulturabteilung, ausgestattet mit Intelligenz, aber, so wie Ulrich, mit unterentwickeltem Karrierebewusstsein. Er bringt die Idee aufs Tapet und muss für die Realisierung auch gleich die Verantwortung übernehmen. „Die Kultur“, bislang ein Abstellgleis der Kommission, erhält so eine unerwartete Aufwertung: „Jeder Mitgliedstaat der EU hatte das Anrecht auf einen Kommissar-Posten, … Als nach den damaligen Europawahlen die Ressorts neu besetzt wurden, kam das Gerücht auf, dass … Österreich … 'die Kultur' bekommen sollte. "Die österreichische Koalitionsregierung zerstritt sich, … die österreichischen Zeitungen machten Stimmung und sie konnten sich auf die Entrüstungsbereitschaft ihrer Leser verlassen: 'Uns droht die Kultur!' Oder: 'Österreich soll mit Kultur abgespeist werden!'Das scheint als Reaktion sehr erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sich dieses Land als 'Kulturnation' – nun, vielleicht nicht 'begriff', aber doch gerne bezeichnete.“

Man könnte „Die Hauptstadt“ mit dem Wiener Grand Hotel vergleichen, dessen Fassaden stehen geblieben sind um es innen auf den alten Fundamenten völlig neu zu errichten. Doch für einen brillanten Schriftsteller wie Menasse ist die Neu-Adaptierung des MoE keine ausreichende Herausforderung. Wenn ein Plot so stark ist, dass er als Remake für jede Generation neu erfunden werden kann, dann gilt: „A Star is born!“ Eine Wiedergeburt – die Auferstehung der Parallelaktion - ohne zureichenden Grund wäre gemäß dem Prinzip des unzureichenden Grundes zwar möglich, aber nicht wirklich spannend für einen Autor mit Möglichkeitssinn.

Um seine schriftstellerischen Möglichkeiten voll auszuspielen führt Menasse einen zweiten Plot parallel, den er Dan Browns „Illuminati“ entlehnt. Und dazwischen findet noch Franz Kafkas „Die Verwandlung“ Platz. Das Personal des MoE ebenso wie der „Hauptstadt“ ist wohlhabend, wenn auch gemessen an den wirtschaftlichen Möglichkeiten ihrer Epochen nicht wirklich reich, nicht „superreich“, wie man heute sagen würde. Doch immerhin ideenreich - gemessen am jeweiligen Zeitgeist, sofern dieser nicht idealistisch als Vorläufer seiner Zeit, sondern empirisch als Spiegel seiner Zeit verstanden wird.

Die dritte Parallele zeichnet Florian, der ältere Bruder von Martin, der schon früh den Schweinezuchtbetrieb seines Vaters übernehmen musste und zu einem Schlachthof ausgebaut hat. Als Obmann der EEP, European Pig Producers, die mit European People´s Party im Clinch liegt, ist er international viel unterwegs. Am Weg nach Ungarn – als Opfer eines Auffahr-Unfalls auf der Autobahn - zieht sich Florian Susman schwere Verletzungen zu: „Und jetzt lag er da wie ein auf den Rücken gefallener Käfer. Jetzt war er verwandelt in einen hilflosen Käfer. Plötzlich. Einfach so. Und wartete darauf, versorgt zu werden.“ Martin fliegt umgehend von Brüssel nach Wien um seinem Bruder im Krankenhaus beizustehen und vernachlässigt die Vorbereitungen zum Big Jubilee. Das Projekt der Kommission wird indessen langsam aber sicher vom Rat viviseziert.

Während die Parallelführungen zu Musil und Kafka beweisen, dass, wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, es auch einen Möglichkeitssinn geben muss, beweist die Parallele zu Dan Brown, dass jedem Autor einmal die Phantasie durchgehen kann. Bei dieser Parallelaktion geht es um einen ungeklärten Mord. „Dass das Vertuschen des Mords im Hotel Atlas nicht bloß auf einen belgischen Staatsanwalt zurückging, sondern dass die Nato da irgendwie die Finger im Spiel hatte, war für [den Kommissar] Émile Brunfaut tatsächlich 'zu groß'.“ Die Brüssler Untersuchungsbehörden und die Nato als finstere Mächte, die eine Aufklärung verhindern wollen, sind dem Autor offenbar nicht genug, denn aus Sicht von Émile Brunfaut „wetteifern die Geheimdienste mit allen Mitteln um die Gunst des Vatikans, um Zusammenarbeit und Austausch mit der Kirche. Das war im Kalten Krieg so, und das ist mittlerweile nicht einmal mehr ein Gehemnis. Jetzt gibt es einen anderen Feind. Es ist nicht mehr der gottlose Kommunismus, der Feind heute heißt Islam.“

Dass alle Parallelen, die durch die Hauptstadt laufen, sich im Unendlichen treffen, lässt sich literaturwissenschaftlich nicht beweisen. Anders als Musils MoE bleibt „Die Hauptstadt“ nämlich nicht unvollendet und somit unendlich, sondern wird mit Seite 459 beendet. Leider aber nicht vollendet.

Robert Musil unterscheidet zwischen Schriftsteller und Dichter. Der Schriftsteller ist ein Meister seines Handwerks, dessen Leistungen sich im Markterfolg spiegeln. Der Dichter ist Denker, der imstande ist den für viele unfassbaren Zeitgeist in Worte zu fassen und zu einem Roman zu verdichten. Robert Menasse ist ein Dichter, und zweifellos einer der besten unserer Zeit. Meiner subjektiven Einschätzung nach: der Beste! Diese Einschätzung konnten, seit ich vor zwei Jahrzehnten seinen Erstlingsroman „Sinnliche Gewissheit“ gelesen habe, ein paar schwächere Titel wie „Schubumkehr“ und „Don Juan“ nicht erschüttern. Nach der Lektüre des Romans „Die Vertreibung aus der Hölle“ ist dieses Urteil für mich allerdings endgültig. Über „Die Vertreibung..“ könnte ich keine Rezension schreiben, für diesen Roman gibt es nur einen Begriff: epochal.

Allein aufgrund dieser Lese-Erfahrungen ist die Erwartung an einen „wahren“ Menasse, der seinen Möglichkeitssinn literarisch vollkommen auslebt, entsprechend hoch. Und allein aufgrund dieser Erwartungshaltung wirkt „Die Hauptstadt“ wie das Auftragswerk eines Schriftstellers: gekonnt, ja sogar perfekt, besser als viele andere aktuelle Werke des Literaturbetriebs, aber doch nur Handwerk eines Schriftstellers mit Wirklichkeitssinn.

Robert Menasse

Die Hauptstadt

Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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HelennaJouja

HelennaJouja bewertete diesen Eintrag 16.03.2019 21:32:10

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