Von Pinguinen und Menschen. Oder: Die Geschichte einer Begegnung

Ich habe heuer einen sehr eigenwilligen Neujahrsvorsatz gefasst: Ich möchte wieder Menschen begegnen. Das klingt jetzt zwar wie ein Satz aus dem Leuchtturm, doch ich bin keineswegs religiös angehaucht.

Nein, was ich meine ist: Ich möchte mich einfach abseits der sicheren und eingetretenen digitalen Pfade wie Facebook wieder auf Menschen einlassen, die ich gar nicht kenne. Ich will mich nicht mehr in den öffentlichen Verkehrsmitteln hinter meinem iPhone verstecken. Vielleicht spreche ich ja sogar Sie, lieber Leser, das nächste Mal einfach zufällig in der U-Bahn an – und bitte bekommen Sie dann keinen Schock. Lassen Sie sich dann einfach auch auf mich ein. Lassen Sie uns einfach ein bisschen plaudern, Geschichten austauschen. Vielleicht mögen wir uns, vielleicht auch nicht – wir können dann einfach wieder getrennte Wege gehen. Wir haben nix zu verlieren, nur zu gewinnen.

Solche Begegnungen können nämlich durchaus erfrischend sein, das durfte ich heuer im Herbst erfahren.

Ich kam in den ungemeinen Luxus, aufgrund eines journalistischen Austauschprogramms insgesamt sieben Wochen in den USA verbringen zu dürfen. Die meisten davon in San Francisco.

Diese Stadt wird seit Erfindung des Internets nicht nur von Erdbeben, sondern vor allem Fluten von Informatikern und Technikern Heimgesucht, die hier ihr digitales Glück im Silicon Valley suchen, das direkt hinter der Stadt beginnt. Deshalb sind die Mieten rapide gestiegen und liegen derzeit sogar höher als jene in New York.

Das wiederum führt dazu, dass die Menschen hier sehr oft übersiedeln. Entweder, weil sie gerade ein Start Up erfolgreich gelauncht haben und nun endlich aus einer der vielen 6er-Wohngemeinschaften ausziehen und sich eine Bleibe mit etwas mehr Privatsphäre leisten können – oder weil sie schlicht in eine billigere Gegend ziehen müssen.

Hier herrscht eine ständige Völkerwanderung, was wiederum dazu führt, dass es viele bereits möblierte Wohnungen gibt, da sich bei der ständigen Siedelei die Möbelschlepperei zu mühsam gestalten würde.

Da auch Waschmaschinen sehr schwer sind und niemand diese ständig ein paar Stockwerke hoch und runter schleppen will, hat hier schlicht niemand welche. Dafür gibt es unzählige Waschsaloons.

Und so war auch ich gezwungen, einen solchen aufzusuchen.

Gleich ums Eck meines Apartments gab es einen kleinen Salon mit alten, silbernen Geräten. Ich schleppte meine Schmutzwäsche dorthin und öffnete die scheppernde Glastüre.

Außer mir war nur ein älterer Herr anwesend. Ich grüßte, doch er ignorierte mich.

Er war schließlich gerade damit beschäftigt, jeden einzelnen Klingelton auf dem iPhone abzuspielen. Der Reihe nach. Jeden Einzelnen.

Sehr eigenartig, dachte ich. Ich wollte so schnell wie möglich wieder weg und schmiss meine Wäsche in die erstbeste Waschmaschine. Doch dann suchte ich nach der Lade für das Waschmittel vergeblich. Ich war verwirrt: Musste ich das Waschmittel direkt in die Tonne leeren? Oder seh ich es einfach nicht?

Ich muss hier hinzufügen: Ich hatte mir eine Augenentzündung zugezogen, konnte meine Kontaktlinsen also nicht benutzen – und meine Brille lag auf der anderen Seite des Planeten in einer Schublade in Wien. Wie ein Maulwurf tappte ich das Gerät ab und war mir tatsächlich nicht sicher, ob ich nicht irgendetwas übersehen hatte.

Na großartig, dachte ich. Der einzige Mensch, den ich hier nach Hilfe fragen konnte, war der Alte, der bereits bei dem wohl vierzigsten Klingelton angekommen war und weiterhin voll konzentriert auf den Bildschirm starrte.

Ich überlegte bereits, meine Wäsche wieder einzusammeln und den nächsten Salon aufzusuchen – schließlich ging mir die Klingeltonhitparade bereits gehörig auf die Nerven. Ist dieser Mann dement oder geisteskrank? Muss ich mich fürchten?

Doch San Francisco besteht aus Hügeln und ich wollte nicht den schweren Wäschesack bergauf und bergab spazieren tragen.

Also überwand ich mich und fragte den Herrn höflich, ob er mir denn nicht helfen könne.

Er blickte mich verärgert an – schließlich hatte ich ihn in seiner wichtigen Tätigkeit gestört. „Lesen Sie doch!“, harrschte er mich an und deutete auf das Gerät.

Skeptisch beobachtete er mich, wie ich mich aufgrund meiner Kurzsichtigkeit ganz nahe an das Gerät heran schnupperte und dann endlich meinen Fehler bemerkte: Ich hatte meine Wäsche in einen Trockner geschmissen. Der Alte dürfte also nun wohl eine ähnliche Meinung haben wie ich von ihm.

Doch dieser schüttelte nur den Kopf und meinte: „Das Problem heutzutage ist, dass die Leute einfach nicht mehr lesen.“

Ich bejahte, erklärte ihm jedoch mein akutes Augenproblem. Dann fügte ich hinzu, dass ich dieses Problem sehr gut kenne, schließlich gehöre ich auch der schreibenden Zunft an, der es von Jahr zu Jahr schlechter ging, weil Menschen kein Geld mehr für Zeitungen und Magazine ausgeben wollen.

Plötzlich ließ er von dem iPhone ab. Ich hatte seine Aufmerksamkeit gewonnen. „Ja, ich weiß, ich bin schließlich Schriftsteller,“ sagte er.

Nun war auch ich neugierig geworden. Und so kamen wir ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass der alte Mann, den ich kurz zuvor für nicht mehr ganz Zurechnungsfähig hielt, auf seinem iPhone nur jenen Klingelton suchte, den sein Enkelkind verstellt hatte.

Er hieß John Burns und lebte seit dreißig Jahren in San Francisco, war Musiker und Schriftsteller. Seinen größten Erfolg hatte er mit einer Kinderbuchreihe: Die vielen Abenteuer des Pengey Penguin.

Da staunte ich nicht schlecht: Wer hätte gedacht, dass sich hinter dem grantigen Klingelton-Zwangsbeschaller ein Kinderbuch-Autor verbarg.

Wir begannen zu plaudern. John war mit seiner Frau in Wien gewesen und liebte diese Stadt. Vor lauter Aufregung sei er damals vor der Oper auf die Straße gelaufen, um gute Fotos machen zu können. Er sei fast überfahren worden und hätte sich eine Standpauke von einem Polizisten eingefangen.

Die Wäsche drehte sich derweil in der Trommel und die Zeit verging wie im Fluge. Johns Wäsche war fertig. „Warte aber noch kurz hier, ich hol dir ein Buch, ich wohne nur ein paar Minuten von hier,“ meinte er und lief nach Hause.

Kurz darauf kam er mit einem signierten Buch zurück. Es war der erste Band von Pengey Pinguin, von dem es bereits sechs geschrieben hat. Es handelt sich dabei um ein Vorlesebuch, das auch viele Lehrer im Unterricht einsetzen. John hatte davon eine Menge verkauft, von der jeder österreichische Autor nur träumen kann.

Er lud mich sogar zum Essen ein und gab mir noch seine Adresse und Telefonnummer, bevor er ging.

Während ich auf meine Wäsche wartete, begann ich in dem Pinguin-Kinderbuch zu lesen. Es war so entzückend, dass ich gar nicht aufhören konnte und gar nicht bemerkte, dass meine Wäsche schon längst fertig war.

Das Absurde: Auch mein Vater war ein absoluter Pinguin-Fan. Er durfte sogar einmal im Schönbrunner Zoo die Pinguine füttern. Und dann lerne ausgerechnet ich in San Francisco einen Pinguin-Autor kennen.

Ich wurde erst aus dem Lesen gerissen, als ein anderer Mann den Waschsalon betrat und mich ob meiner Lektüre etwas skeptisch beäugte.

Nur wenige Tage später saß ich bei John und seiner Frau Carol in der Küche. Wir plauderten bis spät in die Nacht und sahen uns Animationskurzfilme an – eine Leidenschaft von uns allen.

Eine Gegeneinladung folgte und auf diese wieder eine Gegeneinladung.

John und ich in seinem Büro vor einem Pengey Pinguin-Plakat

Als ich zurück nach Österreich musste, schenkte ich John und Carol einen Schnitzelhammer als Erinnerung. Sie hatten mich nämlich gefragt, was das Geheimnis wirklich guter Schnitzel ist und waren erstaunt zu hören, dass das Fleisch geklopft werden muss.

Es war Halloween. Als John den Hammer sah, meinte er: „Gehst du später noch auf eine Party? Gehst du als Gott Thor?“ Er dachte, dass der Schnitzelhammer Teil eines Kostüms sei.

Als ich ihm erklärte, was es damit wirklich auf sich hatte, prustete er los vor lachen: „Ich habe Puppen aus Sri Lanka und Wandteppiche aus Südamerika bekommen, aber das ist wohl das beste Geschenk, das ich jemals bekommen habe.“

Ich dachte nicht, dass jemand sich derart über ein solches Geschenk freuen kann.

Am nächsten Tag brachte er mich zum Flughafen – und steckte mir als Lektüre für den Flug noch den zweiten Teil von Pengeys Reisen zu.

Als ich zurück in meine Wohnung nach Wien kam und die Haustüre aufsperren wollte, bemerkte ich, dass genau gegenüber ein neues Geschäft eröffnet hatte. Die Auslage war voller Pinguine. Da war ein Schneekugel-Pinguin, ein Plüsch-Pinguin mit Baby, eine Iglo-Pinguin-Porzellandose und sogar eine Pinguin-Jausenbox.

Ich kaufte sie am nächsten Tag alle und schickte Sie als Weihnachtsgeschenk nach San Francisco. John hat sie alle um seinen Christbaum gestellt und davon ein Video gemacht:

Nun, nach Weihnachten, teilen sie sich mit dem Schnitzelhammer ein Regal.

So, lieber Leser. Haben Sie nun verstanden, weshalb wir uns wieder begegnen müssen?

Und vielleicht sogar wieder beginnen sollten, unsere Wäsche im Waschsalon zu erledigen?

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