Sophia Benedict

DOKTOR, LEHREN SIE MICH SINGEN!

Tagebuch der Psychoanalyse einer Patientin

Es geschah vor vielen Jahren: Ich war außerordentliche Hörerin einer Vorlesung über Psychoanalyse und verließ gerade die Wiener Hauptuni, als dieses Tagebuch zu mir kam. Eine Studentin meines Alters trat auf mich zu und fragte auf Russisch, ob ich nicht mit ihr einen Kaffee trinken wolle. Wir gingen über die Straße ins Neugebäude, fuhren mit dem Paternoster in die Mensa und machten es uns auf der Terrasse bequem. Erst jetzt stellte sie sich vor. „Ich sehe, dass Sie Ihre Vorlesungen aufnehmen, was machen Sie denn mit den Aufnahmen?“ Ich erklärte ihr, dass ich Journalistin sei und für eine russische psychologische Fachzeitschrift arbeite, also zeichnete ich die Vorlesungen einfach für alle Fälle auf. „Das habe ich mir gedacht“, sagte die Frau erfreut. „Ich habe Beiträge von Ihnen gelesen, war mir aber nicht sicher, ob Sie es wirklich sind, deshalb wollte ich mit Ihnen reden. Nur…“ Sie stockte, senkte den Blick, entnahm ihrer Tasche ein umfangreiches Manuskript und legte es auf den Tisch. Auf meinen fragenden Blick antwortete sie zögernd: „Das ist die Geschichte meiner Psychoanalyse. Mein psychoanalytisches Tagebuch. Ich möchte, dass Sie daraus ein Buch machen.“ Sie verstummte, dann sah sie sich in der Mensa um und fügte hinzu: „Es könnte eventuell für Psychologiestudenten interessant sein…“ Ich war überrascht und wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Frau fuhr fort: „Sie wollen sicher wissen, warum ich das nicht selbst mache. Das ist schnell erklärt. Dieses Material – darf ich es so nennen? – ist, wie Sie sicher verstehen, viel zu persönlich, es ist für mich viel zu schwierig, die notwendige Distanz zu gewinnen, ohne die ein gutes Buch unmöglich ist…“

Natürlich konnte ich das verstehen. Aber der Anblick der dicken Mappe weckte in mir keine richtige Begeisterung – wozu mich mit einem fremden Manuskript befassen, wo doch in meinem Kopf Tausende eigene, noch nicht realisierte Ideen herumschwirrten? Während ich überlegte, wie ich diesen ehrenhaften Vorschlag höflich ablehnen konnte, plätscherte das Gespräch weiter, wir sprachen über unser Land, freuten uns, dass im neuen Russland die Psychoanalyse eine neue Blüte erlebte, obwohl noch viel Zeit vergehen wird, bis auch in unserer Heimat eine erste Generation wirklicher Fachleute auf diesem Gebiet heranwächst. Es zeigte sich auch, dass das Schicksal uns fast an dieselben Orte geführt hatte. Beide kamen wir in der Ukraine zur Welt, lebten einige Zeit im Kaukasus, dann studierte ich an der Universität von Kasan und sie in Gorkij, dem heutigen Nishnij Nowgorod. Beide Städte liegen an der Wolga. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, dass das Manuskript schließlich in meiner Tasche landete. Ich versprach, es mir anzusehen. „Machen Sie damit, was Sie wollen! Ich verlasse Österreich.“ „Und wohin fahren Sie?“, war meine bestürzte Frage. „Ich kehre nach Russland zurück. Dort bekomme ich eine gute Arbeit. Und noch etwas… Ich habe jemanden kennengelernt, der… Es ist allerdings noch zu früh, darüber zu reden… Österreich ist ein schönes Land, aber ich muss heim!“ „Wie kann ich Sie finden, um Ihnen Ihr Manuskript zurückzugeben?“ „Sie müssen es mir nicht zurückgeben. Es gehört Ihnen! Machen Sie damit, was Sie wollen!“ Bevor sie sich endgültig verabschiedete, legte sie ihre Hand auf die Mappe und sagte leise: „Wer ideale Eltern hat und selbst nie etwas tat, dessen er sich später schämte, werfe den ersten Stein!“

Lange nach dieser Begegnung warf ich einen ersten Blick in das Tagebuch. Es zog mich von der ersten Zeile an in seinen Bann. Einige darin dargelegte Gedanken waren mir so vertraut, dass ich Ideen für neue Sujets für kleinere und größere Erzählungen bekam. Das war Magie!

Dann vergingen nochmals einige Jahre, bis ich den unüberwindlichen Wunsch verspürte, der Bitte meiner flüchtigen Bekannten nachzukommen und aus ihren Aufzeichnungen ein Buch zu machen. Im Lauf der Arbeit wuchs ich – wie das oft passiert – mit der Protagonistin zusammen, mich rührte die Seele des armen Kindes, das sich nach nichts so sehr sehnte als nach Liebe. Erst jetzt verstand ich, warum sie nicht selbst ihr Buch hatte schreiben wollen. Sie wollte sich vor dem erneuten Schmerz schützen, aber nicht nur das. Sie fürchtete sich auch vor der Zurückweisung ihrer viel zu großen Offenherzigkeit. Viele Leser werden erschrecken, wenn ihnen bewusst wird, was aus Erwachsenensicht anscheinend harmlose Handlungen oder Worte in einer Kinderseele bewirken, was sie für die Zukunft eines Kindes bedeuten können. Nicht alle Menschen können sich mit den Schuldgefühlen konfrontieren, die eine derartige Schilderung bei ihnen wecken mag. Wer aber den Mut hat, das alles zu durchleben, dem werden sich neue Horizonte eröffnen.

Die Ich-Erzählerin des Tagebuchs durchlebte während ihrer Analyse großen Schmerz, sie musste erneut all das Furchtbare durchmachen, was sie schon einmal erlebt hatte und was sie hatte erkranken lassen. Wenn diese Tiefenschichten sich auftaten, fand sie sich wiederholt am Rande des Abgrunds wieder, aber das musste so sein, weil das Leid, das im Unbewussten steckengeblieben war, sie nur auf dem Weg verlassen konnte, auf dem es zu ihr gekommen war. Die Patientin blieb heil und ganz, weil sie auf diesem Weg nicht alleine war. Hinter ihr stand ein Mensch, er nahm Anteil an ihrem Leid und wusste ganz genau, wie und wann das Sicherheitsnetz auszuwerfen war, damit die Patientin nicht in den Abgrund stürzte. Er gab ihr neue Kraft, erweckte in ihr die souveräne Persönlichkeit, die sie eigentlich immer gewesen war. Mit seiner Hilfe konnte sie die Angst vor der Einsamkeit, die Angst vor sich selbst überwinden. Ganz nach Freud gewann sie in der Folge ihre Lebensfreude wieder, die Fähigkeit, sich selbst zu lieben und die Fähigkeit zu arbeiten.

Dieses Tagebuch ist kein Protokoll einer Analyse nach Freud, es handelt sich um Tagebuchaufzeichnungen, die parallel zu jener Hauptsache geführt wurden, die in der Analyse passierte, es ist eine Weiterführung der Gespräche mit dem Psychoanalytiker. Aus fachlicher Sicht sind die akribisch aufgezeichneten Träume hochinteressant, was fehlt, ist jedoch eine ausführliche Analyse der Träume, die leider jenseits des Tagebuchs passierte. Diese Deutung ist nur in Ansätzen vorhanden. Dafür aber sehen wir, wie sich im Lauf der Verbalisierung der Gedanken und Gefühle neue wichtige Schichten des Unbewussten auftun.

Zu vermerken ist auch, dass die Tagebuchautorin ihre Aufzeichnungen verfasste, wenn ihr danach zumute war, ohne sich das Ziel zu setzen, daraus ein Buch über ihre Psychoanalyse zu machen. Diese Idee kam erst nach Abschluss der Analyse, aber auch dann delegierte sie diese Aufgabe an mich. Was heißt nach Abschluss? Bekanntlich ist eine Psychoanalyse nie beendet. Wenn ein Mensch diese Fertigkeit einmal erworben hat, steht sie ihm immer zur Verfügung.

Das Buch ist im Verlag: Norderstedt erschienen

Erhältlich – in Papier und als E-Book – in allen Buchhandlungen sowie bei Amazon und bei anderen Anbietern im Netz.

ISBN: 978-3-7431-9175-4

ISBN-13: 978-3-7448-0621-3

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