Die westliche Zivilisation, einst Hochburg von Fortschritt, Egalität und Kultur, ist in freiem Fall. Das mag Vielen nicht auffallen, da man bei gemeinsamem Fall meint, alles um einen herum stünde weiterhin an seiner Stelle, und weil sie auch, als Teil dieses Falls, das rationale Denken und die dialektische Betrachtung beiseite gelassen haben. Das Wort „Wohlstandsverwahrlosung“ wird immer wieder gerne herumgeworfen und, wie üblich innerhalb einer dekadenten, zerfallenden Zivilisation, eigentlich seiner Bedeutung ausgehöhlt. Man beschimpft damit zumal die Ansicht, dass man eben seinen Wohlstand erhalten und ausbauen möchte, was seit Menschengedenken eine zentrale Zielsetzung jeglicher Zivilisation war. Wer nicht auf Privatauto, Einfamilienhaus, warmes Wasser oder zuverlässige Stromversorgung verzichten will, ist wohlstandsverwahrlost. Wer nicht bereit ist, seinen Lebensstandard mehr an den von Troglodyten anzugleichen, ist wohlstandsverwahrlost. Dieser unsinnige, unlogische, irrationale Umgang mit der Sprache ist nur eine von vielen Facetten, dieses zivilisatorischen Niedergangs. Wohlstandsverwahrlosung bedeutet, dass man aus solcher Verwöhnung die man gewohnt ist, das Wichtige und Wesentliche, wie es eben der Erhalt unserer zivilisatorischen Errungenschaften wie individuelle Freiheit, Gerechtigkeit und ja, auch Wohlstand, aus den Augen lässt, weil man es plötzlich nicht mehr als bedeutsam ansieht. Die Dekadenz ist so weit fortgeschritten, dass Worte inzwischen auf das Gegenteil ihres eigentlichen Sinnes umgedeutet werden. „Krieg ist Frieden ...“ usw., man kennt es.

Vermutlich seit Fukuyamas sog. „Ende der Geschichte“ scheinen westliche Gesellschaften zu meinen, den Olymp der Zivilisation erreicht zu haben, und nun, gottgleich (im wahrsten Sinne des Wortes), sich den Schönheitsfehlern widmen zu können, seien dies Geschlechtsumwandlungen für Minderjährige, wirre Rassentheorien, Abtreibungen als Grundrecht, Klimakrisen, usw., usf.. Und während man dieser zivilisatorischen Selbstbefriedigung nachging, kämpften sich dann plötzlich andere Mächte, die man schon als aussichtslose Untermenschen abgetan hatte, nach oben und stellten unsere regelbasierte Ordnung in Frage. Krieg in Europa. Der Autor entschuldigt sich, dass das Steckenpferd kommen musste. Der Krieg in der Ukraine hat die tiefgreifende Entartung des Westens sichtbar gemacht. Die Maske des zivilisatorischen Primus fällt, und dahinter zu finden sind ein Brüllbaby namens Europa, und ein Raufbold namens USA.

Sobald die Sache also nicht nach dem Willen Europas geht, beginnt dieses Brüllbaby zu plärren und zu strampeln. Wir sind doch die moralisch besseren, wir sind die guten, alle müssen nach unserer Pfeife tanzen; Sanktionen!, Embargos!, Zensur!, Einreisebeschränkungen!, Blockaden!, und vor allem natürlich grosse Worte mit nichts dahinter, denn während Russland sich seine zu aller Mindest regionale Übermacht mit harter Arbeit erbaut hat, haben wir uns um Energiewende und Klimakrise gekümmert, denn wir waren ja die Götter im Olymp, die dazu bestimmt sind, die Welt zu retten. Jetzt, wenn wir verlieren, schmeissen wir das Spielbrett vom Tisch, vergessen unsere ganzen Ideale und Wertvorstellungen, hetzen, zensieren, hassen, schreien Blutrünstig nach mehr Krieg und mehr Waffen, manch einer hätte lieber einen apokalyptischen atomaren Weltkrieg gehabt, als dass wir einmal nicht gewinnen. Wie das Brüllbaby, das lieber das Spielzeug kaputt macht, als dass jemand anders es bekommt. Das Brüllbaby kann nicht verstehen, dass in diesem ungerechtem Spiel, welches die Realität ist, auch einmal jemand anders gewinnen kann, und dass es schlussendlich keine Regeln gibt, ausser die, die man selber durchboxen kann. Das ist uns natürlich nie aufgefallen, als es unsere Seite war, die diese Regeln durchboxte, die uns zu gute kamen. Es war alles sehr gerecht, solange das Brüllbaby die besten Spielsachen hatte.

Hinter dem Brüllbaby steht der Kamerad Raufbold, der meinte, alle müssten nach seiner Pfeife tanzen, da er sie sonst mit Gewalt schon zur Einsicht bringen würde. Nun steht plötzlich ein anderer Schläger auf dem Pausenhof, der nicht bereit ist, sich ohne weiteres vom Raufbold piesacken zu lassen. Aber der Raufbold kennt nichts anderes, als durch Gewalt oder Androhung von Gewalt immer das zu bekommen, was er möchte. Wenn ihm diese Regierung nicht passte, wurde einfach mal ein Putsch organisiert, wenn dann der eingesetzte Diktator irgendwann zu übermütig wurde, gab es kurzerhand eine Invasion, Pardon, Befreiung. Man kennt gar keine Lösungsansätze mehr, die nicht einfach der rohen Gewalt obliegen, und ebensowenig kennt man es, dass man selber den kürzeren Ziehen muss (die Vietnam-Katastrophe wurde schon lange aus der Erinnerung verdrängt). Und natürlich traut sich keiner dem Raufbold dies zu sagen, zumindest keiner, der zu seinen „Freunden“ bzw. Vasallen gehört.

Der Raufbold und das Brüllbaby sind mental unfähig, mit dieser Situation klarzukommen, es ist eine kognitive Dissonanz gegenüber dem bisherigen Status Quo der geopolitischen Olympgötter, welche es unmöglich macht, die Situation rational anzugehen, auch unter der Betrachtung, dass man selber unweigerlich den kürzeren Ziehen wird, und allenfalls versuchen kann, das beste daraus zu machen. Das schlechtere Spielzeug, das angeboten wird, weil der Neue jetzt die guten Spielsachen hat, schlägt man aus der Hand und macht es kaputt. Tatsächlich scheint es, angesichts dieser Ohnmacht, wird lieber einfach alles kaputtgeschlagen. Aber es ist kein Kaputtschlagen in Gleichheit, sondern die von oben schlagen es kaputt, und die von unten müssen es ausbaden. Die schon zuvor begonnene Zerstörung des Wohlstands und der Mittelschicht wird weiter vorangetrieben, damit das Brüllbaby weiter brüllen, und der Raufbold weiter raufen kann.

Die zuvorige Abschaffung eines honetten öffentlichen Diskurses, passend zu dieser egomanischen Entwicklung hin zu Raufbold und Brüllbaby, macht es unmöglich, dass andere Stimmen reinreden könnten, welche diese Mentalität nicht teilen, welche denken, dass man sich zusammenreissen und vielleicht die Lektion ziehen sollte, dass man nicht immer alles bekommen kann was man möchte, wie auch dass der Wohlstand und die Wertvorstellung nicht selbstverständlich sind, und es ganz bestimmt nicht aushalten werden, dass man diese als Wurfgeschoss gegen den Widersacher benutzt. Im Namen unserer höchsten Ideale geben wir unsere höchsten Ideale auf, wir wollen die Welt retten, aber können nicht einmal uns selbst retten. Das ist Wohlstandsverwahrlosung, und nicht ein Vorsatz von Bescheidenheit, sich erst einmal auf das Wesentliche zu fokussieren, erst vor der eigenen Haustür zu kehren, bevor man einen Kreuzzug des Moralproselytismus unternimmt. Glaubt man tatsächlich an ein Schicksal, so müsste die Erkenntnis sein, dass dieses uns nicht aufgegeben hat, die Welt zu retten, sondern stattdessen unsere eigene, europäische, westliche Familie zu hüten und das Beste für sie zu erlangen, denn das wäre die logische Folgerung. Schade nur, dass Raufbold und Brüllbaby alles besser wissen.

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