Sebastian Kurz ist mutig. Sebastian Kurz ist jung und vermutlich gerade deshalb so erfrischend blauäugig. Im Grunde hat er zwei Gedankenstränge angerissen, die sogar meine Generation nie ohne den Beigeschmack der vermeintlichen Erb-Schmach des Nazi-Regimes in den Mund genommen hätte. Doch der Reihe nach.

Sein Satz „die Rettung aus Seenot ist nicht mit einem Ticket nach Mitteleuropa verbunden“ zergeht auf der Zunge. Vielleicht ist es eine Nachwirkung des kollektiven schlechten Gewissens, das uns jeden Schutzsuchenden zu Tode umarmen lässt. Was ist denn Asyl? Einen von Tod und/oder Verfolgung bedrohten Menschen aufzunehmen und zu versorgen (Kurzform). Im Prinzip solange, bis die Bedrohung daheim beseitigt ist und einer sicheren Rückkehr nichts mehr im Wege steht. Die Bewältigung der Flüchtlingswelle aus dem ehemaligen Jugoslawien hat Österreich ja auch mit Bravour bestanden. Es ist nur logisch, dass einige ehemalige Flüchtlinge im Land bleiben, sich integrieren und zu Österreichern werden.

Was ist nun passiert? Nachdem die europäische Solidarität sich vom vergangenen Herbst bis heute als Rohrkrepierer erwiesen hat, öffneten wir die Türen und ließen – im guten Glauben es wären alles syrische Kriegsflüchtlinge – alle Menschen ins Land bzw. in de facto drei Länder der EU (Schweden, Deutschland und Österreich). Hier beginnt unsere innige die Todesumarmung: Alle müssen integriert werden, eine dauerhafte, fixe Unterkunft haben, finanziell und mit einer rosigen Zukunft in Europa ausgestattet werden. Wir müssen sie zwanghaft zu den Unsrigen machen! Egal, ob die Asylsuchenden das wollen, es die Kapazitäten des eigenen Landes zulassen, usf.. Das hat nur nichts mehr mit der Grundidee des Asyl zu tun, sondern mit (chaotischer) Migration und Zwangsbeglückung.

Deshalb bringt es der Satz von Kurz auf den Punkt: Retten ja, versorgen auch und danach – when ever – in eine sichere Zukunft in ihren Herkunftsländern zu entlassen. (Das wird sich allerdings bereits relativieren, wenn Klima-Flüchtlinge die gemäßigteren Zonen stürmen bzw. Küstenstriche in den Meeren versinken werden. Insofern ist die Syrien-Flüchtlingskrise nur ein klitzekleiner Vorgeschmack.)

Problematischer ist seine Anlehnung an das australische Modell der Internierung auf einer Insel. Das weckt beim gelernten Österreicher und erst recht bei linken Politikern sofort die innere Moralkeule: Internierung = KZ = Nazi. Dass natürlich Australien, gemessen an seinen Möglichkeiten, vergleichbar minimalistisch bei der Aufnahme von Asylwerbern vorgeht, steht außer Zweifel. Weshalb? Nationale Interessen werden über eine humanistische Gesinnung gestellt.

Doch leider hat Sebastian Kurz im Prinzip hier wiederum recht. A la longue wird es nicht ohne großräumige Auffanglager im Stile jener an der türkisch-syrischen Grenze oder in Jordanien und dem Libanon gehen, in denen die Masse der Asylsuchenden betreut werden. Wo diese Lager dann entstehen – ob auf einer griechischen Insel, an den Wüstenstränden Nordafrikas oder in einem End-Tal in den Salzburger Alpen oder in der burgenländischen Puszta – wird wohl heftig diskutiert werden.

Das Wunderbarer an fisch+fleisch ist, dass das Archiv nichts vergisst (solange man es nicht selbst löscht). Meine diversen Texte zum Thema „Flüchtlingskrise“ der vergangenen acht-plus Monate dokumentieren einen Meinungswandel vom linkslinken „Gutmenschen“ (so wurde ich nicht nur einmal genannt) zum „rechten Recken“ (vor einigen Tagen). Freilich war ich mir noch im Herbst 2015 sicher, dass es möglich ist und gelingen wird, als eine geeinte und solidarische „EU der Humanisten“ alle Asylsuchenden aufnehmen, verpflegen und unterzubringen, solange Krieg und Terror in ihren Heimatländern herrschen. Das hat die europäische Politik – wie vieles andere auch – wunderbar versemmelt!

Ok, man darf mich gerne nun naiv nennen. Ich habe vor einem Jahr noch an die vielbeschworene und vielgelobte Solidarität geglaubt, die bereits mit Ungarn zu bröckeln begann. Dem Verfall des gemeinsamen europäischen Fundaments haben sich bekanntlich zahlreiche andere EU-Staaten aus den unterschiedlichsten Gründen angeschlossen. Sei es aus historisch bedingter Skepsis gegenüber Asylsuchenden, sei es aus opportunistischen, nationalen Motiven.

Ok, man darf mich gerne nun sehr naiv nennen. Denn irgendwie hatte ich vergessen, dass sich einem Strom an Asylsuchenden nach der UN-Konvention auch Wirtschafsmigranten, Kriminelle und Terroristen anschließen könnten.

(Und man darf mich einen desillusionierten Linken nennen.)

Deshalb ist es längst an der Zeit, sich vorerst von einem multinationalen und solidarischen Europa zu verabschieden – zumindest solange nicht Grundlegendes neu verhandelt wird und vor allem neue Spielregeln in der EU fixiert sind. Das kopflose Chaos, in dem Europas Politiker von der Griechenland- zur Ukraine- und Syrien-Krise von einem Desaster zum anderen taumeln, ist nicht lange lebensfähig.

Das Schlaraffenland der Humanisten-Union war eine schöne Idee – sie scheitert leider an den Grundinstinkten des Menschen, die gerade der türkische Premier Erdogan vor unser aller Augen paradiert: Es geht immer nur um den eigenen Vorteil…

Arbeitsbesuch Äthiopien, Februar 2016, Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arbeitsbesuch_Äthiopien_(24494414850).jpg

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