DAS FLÜSTERN VON SUTIVAN – Von Bogumil Balkansky

Wenn ich nachts in Sutivan keinen Schlaf finde, dann finde ich die Geister der toten Stivanjani.

Heute weiß man, dass Sutivan mit einer Villa Rustica beginnt. Das ist jetzt über zweitausend Jahre her. Doch wenn ich nachts in Sutivan, vom Jugo und vom Wein berauscht, keinen Schlaf finde, dann finde ich die Geister der toten Stivanjani. Ganz leise, zwischen den Böen, kann ich sie in den Mauern flüstern hören.

Die Knochen der Besiegten

Der Römer, der seine Villa in der Bucht von Sutivan baut, kann keinen besseren Ort wählen als diesen. Wenige Meter von der Außenmauer ist ein Kiesstrand, in den ein kurzer Bach mündet, der selbst im Sommer selten trocken wird. Dahinter ist ein langes Tal, das den Maestral einfängt und die Villa von der Sommerhitze abkühlt. Heute ist dieser Bach unter der Allee der Gefallenen begraben, an deren Ende seine einstige Quelle dem Dorfteil seinen Namen gibt: Funtana.

Ich nenne diesen Römer Publius Gaudeamus. Weil ich mir so gut vorstellen kann, wie sein Leben in dieser sanften Bucht verläuft. Im Winter ist er in seinem geheizten Haus in Salona, auf dem Festland. Sobald aber die Sonne wieder warm genug ist, kommt Publius an diesen noch namenlosen Ort zurück. Immer, wenn Publius auf den Kiesstrand vor seiner Villa tritt, kann er noch einige Gräber sehen, die schon verwittert und von Rosmarin und Lavendel fast verschlungen sind. Die Toten darin sind viel länger hier als Publius. Archäologen unserer Zeit sagen mir, es seien Illyrer, die hier wohl nach einer verlorenen Schlacht einige Genossen eilig begraben müssen, statt sie unter großen Steinhaufen auf den Anhöhen von Brač zu begraben.

Wahrscheinlich weiß Publius Gaudeamus gar nicht, dass die kleinen Steinhaufen in der Bucht von Sutivan Gräber sind. Zwei Jahrtausende später sind er und seine Villa auch nur eine (mehr oder weniger gewisse) archäologische Feststellung. Die Gräber der illyrischen Aufständischen hingegen werden fast unberührt bei der Renovierung eines Hauses am Hafen, knapp unter einer Türschwelle, gefunden und ruhen heute im Depot des Museums in Split.

Wenn der Hahn kräht

Als im 6. Jahrhundert Sutivan zum ersten Mal beim Namen genannt wird, leben hier nur einige Mönche und Nonnen rund um eine kleine Basilika, die dem heiligen Johannes gewidmet ist. Die Villa des Publius Gaudeamus ist längst nur mehr ein Abdruck im Boden, überwuchert und unsichtbar.

Die letzten Steine der Villa tragen wohl die Mönche weg, als sie ihr Kloster neben der Basilika bauen. Und dieses Kirchlein im byzantinischen Stil ist heute ebenfalls nur ein Abdruck im Boden, über dem spätere Mönche und spätere Nonnen zusammen mit den Fischern von Sutivan im 15. Jahrhundert eine noch kleinere Kirche, diesmal im Stil der "Westkirche", bauen. Damals ist Sutivan als "Konfin" (Gemeindegebiet) des Klosters beschrieben. Und zwar als jenes Land, das so weit reicht, wie man den Hahn morgens krähen hören kann, wenn er auf der "Punta Nigra" (Schwarzes Kap) neben dem Kloster steht und kräht.

Zweihundert Jahre später visitiert ein Bischof namens Cedulin regelmäßig die Insel Brač. Darüber führt er Tagebuch. Deswegen wissen wir, dass der Pfarrer von Sutivan ein Problem mit einer Fischerfamilie hat. Die störrischen Fischer hängen ihre Netze zum Trocknen an die Kirchenmauer, weil sie meinen, diese Mauer stehe auf ihrem Grund und nicht auf dem Grund der Kirche. Cedulin ist ein Pragmatiker und löst die Sache mit ein wenig Geld aus der bischöflichen Kassa und sehr vielen Ermahnungen an die Fischer, nicht die Qualen des Höllenfeuers zu vergessen.

Poesie und Pistolen

In diesen unruhigen Nächten, wenn ich zwischen den Schatten von Sutivan wandere und die Melancholie genieße, die der Jugo in meinen Kopf bläst, lande ich immer wieder beim Sommerhaus des Jerolim Kavanjin Capogrosso. Hier, wo die Vergangenheit Sutivans so konzentriert besteht, ist das Flüstern der toten Stivanjani am deutlichsten zu hören. Denn genau hier, über den kargen Resten der Fundamente der Villa des Publius Gaudeamus, baut der Dichter und Krieger Kavanjin im Morgengrauen des 18. Jahrhunderts sein Domizil für die heiße Jahreszeit, die niemand von seinem Rang in Split oder Padova verbringt.

Kavanjin ist erst im Krieg gegen die Türken und später, in vorgerücktem Alter, gegen manche Bewohner von Sutivan. Neben einem der Eingänge zu seinem Grundstück lässt er Schießscharten anbringen und darüber in Stein meißeln, diese Tür sei nur für Freunde gedacht. "Ostium Non Hostium" steht dort. Bis heute. Die Schießscharten zeugen stumm, sie seien für alle anderen Besucher gedacht. Bis heute. Nur eine Generation später ist das Geschlecht des Jerolim Kavanjin ausgestorben, und sein Sommerhaus mit allem Land fällt der Gemeinde zu. Und verfällt seitdem mal langsam, mal schneller, je nachdem, was die Gemeinde gerade damit anstellt. Bis heute.

Manchmal meine ich sehen zu können, wie sich ein einzelner Schatten aus dem schwarzen Rest der Mauern löst und sich zum Hafen wendet. Vielleicht ist es der Schatten des Römers aus Salona, vielleicht der von Kavanjin. Mir scheint, der Schatten blickt über den Hafen vor dem Haus. Da, wo vor zwei Jahrtausenden der kleine Strand und die Bachmündung ist. Und wo letzten Sommer Ive "der einarmige Bandit" gegen Keko "den Baggerfahrer" einen Krieg darum führt, wessen Eisverkaufsstand vor dem Sommersitz des Kavanjin stehen darf.

Das Schweigen der Hähne

Als ich noch ein Kind bin, krähen noch die Hähne von Sutivan morgens die Sonne herbei. Der alte Petar Kirigin, der die einarmige Schwester meines Großvaters fast heiratet, hat einen. Die Witwe Ursa, die den Touristen am Strand Olivenöl gegen Sonnenbrand verkauft, hat einen, und auch ihr Cousin Škaro "der Traktor" und noch viele andere Stivanjani haben einen Hahn. Der Chor der Hähne von Sutivan ist damals vielstimmig. Aber ich kann die meisten an ihrer Tonlage, der "Komposition" und der Richtung unterscheiden.

Am nächsten ist der Hahn vom Kirigin am Ende der Bucht von Majakovac. Vom Hügel des heiligen Rochus, auf dessen Rücken der Friedhof ist, wo alle Stivanjani früher oder später das Warten auf die Ewigkeit beginnen, setzt gleich darauf der Hahn der Ursa ein und anschließend, noch weiter weg, fast am südlichen Ende von Sutivan, bei der Punta Nigra, wo einst der Klosterhahn kräht und jeden Morgen aufs Neue das Konfin von Sutivan bestimmt, kräht als letzter der Hahn von Škaro "dem Traktor".

Heute gibt es nicht einen einzigen Hahn mehr in Sutivan. Auch keine Esel und Maultiere, keine Ziegen. Sie sind in die Schatten eingegangen, so wie die illyrischen Krieger, wie Publius Gaudeamus und wie Kavanjin und der alte Kirigin.

Strand der Schatten

In regelmäßigen Abständen sorgt die Himmelsmechanik für eine besonders niedrige Ebbe im Hafen von Sutivan. Dann kann man in der nördlichen Biegung des Hafens ein kleines Stück des Strandes sehen, der einst bis zur Villa Rustica reicht, auf dem Publius vielleicht seine Frau nach dem Sommerbad küsst und vielleicht nachts eine seiner Sklavinnen beschläft.

Heute ist es sehr betriebsam über dem antiken Strand. Hier ist die Konditorei und der Eisverkaufsstand von Keko, die Bäckerei vom Albaner und die Caffee Bar Marina, ausgestattet mit Hotspot und einer dieser unnötigen Beregnungsanlagen für die ganz heißen Tage in Sutivan, wenn es so heiß ist, dass nicht einmal der Maestral hilft.

Es ist übrigens dieselbe Caffe Bar Marina, in der in einer öden Winternacht 1989 die auf Brač berühmte "Abrechnung mit der Schrotflinte" zwischen Boris "Barista" und dem leidenschaftlichen Alkoholiker und Wildschweinjäger Bartul "Šljivovica" stattfindet. Die Eingangstür zur Bar, die Stereoanlage von Boris und ein Barsessel fallen dem Schrot aus den zwei Läufen von Bartuls Flinte zum Opfer. Weil Boris hinter die Bar taucht. Anschließend flieht Bartul in den Karst, schläft seinen Rausch aus und lässt sich am nächsten Morgen in der Caffe Bar Marina, gleich nach dem Espresso, widerstandslos festnehmen.

Den Kaffee (und einen Šljivovica) serviert ihm Lidija, die Frau von Boris "Barista".

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