Bogumil Balkansky (A.D. 2012)

In den letzten Wochen sterben drei Menschen, die ich kenne und zwei weitere liegen im Koma ohne Wiederkehr. Wien im Winter scheint mir besonders morbid, allemal zu Weihnachten

Mit dem Vergehen der Jahre werden Tote, die man kennt, mehr; bis man mal selbst dran ist und zu einem von jemandem gekannten Toten wird. Die meisten Toten, die ich inzwischen kenne, sind nicht alt genug geworden, um ihren Tod abzunicken, weil's eh schon Zeit ist. Der erste Tote, dessen Ableben ich registriere, ist jedoch ein unbekannter Mann, dessen Sohn mein Klassenkamerad in der Volksschule ist.

Blutgericht

Mein erstes Jahr in Wien geht dem Ende zu und in der Volksschule sitze ich neben einem Kind, dessen Name hier Peter sein soll. Er ist ein stiller Junge und meine Versuche mein neuerworbenes Deutsch auf ihn loszulassen, scheitern. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern. Außer an den Tod seines Vaters. Weil die Lehrerin so wütend ist, dass selbst ein Kind das merkt.

Die Direktorin kommt an diesem Tag in unsere Klasse und holt Peter in ihr Büro. Zuvor flüstert sie der Lehrerin etwas zu. Nach dem Peter draußen ist, die Tür geschlossen und die Lehrerin kurz durchs Fenster blickt, sagt sie uns, wir müssten in den nächsten Wochen sehr nett zu Peter sein, weil sein Vater grad stirbt. Dann spricht die Lehrerin aus, was sie zornig macht. Peters Vater könnte noch viele Jahre Peters Vater sein und mit ihm alles machen, was Väter und Söhne lachen lässt, weil er nur eine Blinddarmentzündung hat. Doch auch bei der Routineoperation eines Blinddarmes würde Peters Vater eine Blutkonserve brauchen, was sein Gott nicht will. Peters Vater und Mutter und das Kind Peter sind Zeugen Jehovas und Fremdblut ist eine Sünde, die direkt in die Hölle führt. Einige Tage später kommt Peter wieder in die Schule. Seine Augen sind rot vom Weinen.

Hello Kitty!

Adriana ist ein vierzehnjähriges Mädchen aus unserer Nachbarschaft und sie muss in dieser Geschichte nicht sterben. Aber Adrianas Mama muss es. Krebs im Endstadium, der die letzte hoffnungsvoll begonnene Chemotherapie ausbremst. Adriana trauert unsichtbar und lebt wie jeden Tag. Nach der Schule ist sie im Park, vorzugsweise im Käfig, wo sie besser den Ball und manches Schienbein kickt als die älteren türkischen Kids. Wenn ein Foul diskutiert wird, schimpft Adriana auf Türkisch und serbisch, streut "Hurrre!" dazwischen. Unser Sohn lernt von ihr das Spielen mit dem Ball und manchmal ist sie seine Nanny. Wenn zu Hause Streit ist, schläft Adriana bei uns.

Es ist wahr, dass Adriana in einer Familie lebt, die in der post-industriellen Gesellschaftswissenschaft als "Präkariat" bezeichnet wird. Und ganz gewiss ist es, dass Adriana mit zu vielen Menschen, Katzen und Hunden in einer etwas zu kleinen Wohnung lebt. Und es stimmen auch alle Klischees vom Vater, der eine Vergangenheit hat und immer noch bisweilen zu viel trinkt, von der Mutter, die schon ewig von Sozialhilfe lebt und der manchmal grantigen Oma, unter deren Dach alle untergekommen sind. So kommt es auch, dass sich das Klischee vom gefühllosen Menschen erfüllt. Als Adrianas Mutter am letzten Tag unerträgliche Schmerzen bekommt, ruft man die Rettung. Doch die Schmerzen sind so stark, dass die Sanitäter Adrianas Mutter nicht auf den Tragessesel heben können, ohne dass sie schreien muss. Es wird trotzdem ohne Morphium gemacht, weil die Notärztin eine Katzenallergie hat und mit der Spritze im Gang wartet, bis die schreiende Frau zu ihr getragen wird.

Das Letzte, was Adrianas Mama in ihrem Leben sieht, ist der ärmliche Gang einer Mietskaserne in Meidling, ein Stück Himmel im Holzfensterkreuz vielleicht - und das Gesicht einer Ärztin mit Katzenallergie. Danach schläft sie ein, fällt später ins Koma, die Organe versagen, der Stecker wird gezogen.

Hans ist weg

Er ist der erste von uns vier film-freakigen Nerds in unserer Klasse, der einen Film dreht und ihn in einem gemieteten Kino vorführt. Und zwar gleich nach der Matura, die er mit gelangweilter Miene zur Kenntnis nimmt. Hans ist zudem jene seltene Sorte Nerd, der selbst von den primitivsten Schulrowdies in Ruhe gelassen wird, einfach weil Hans jede zweistündige Mathematik-Schularbeit in 20 Minuten schreibt, weil Hans tatsächlich versteht - wirklich versteht - was im Physikbuch gemeint ist und weil die Lehrer Hans oft bitten müssen, sie nicht mit seiner Auswahl des Themas zum Semester-Referat zu überfordern. Hans ist also ein "Brainiac", einer, dessen wichtigstes Organ tatsächlich das Gehirn ist. Ein Genie-Nerd mit Aura.

Doch Hans hat seit seiner Kindheit einen gutartigen Tumor im Gehirn, der irgendwann auf sein wichtigstes Werkzeug, das Sprachzentrum, drückt. Weswegen der Tumor doch behandelt werden muss, weswegen er aufhört gutartig zu sein, stattdessen nun bösartig ist und vor zehn Tagen Hans im Schlaf umbringt. Tschao Hans! Und vergib mir, dass ich dich 1980 zwei Monate lang hasse, weil Bettina lieber mit dir statt mit mir herummacht.

Wäre ich auf Hans Begräbnis, so wäre dies mein Nachruf. Aber ich gehe nicht zum Begräbnis, weil ich Hans schon über zwanzig Jahre lang in unserer großen, manchmal kalten Stadt nicht begegne und seinen Tod als beiläufige Mitteilung in einem belanglosen Telefonat zur Kenntnis nehme.

Angriff der Riesenkrake

Nun da er tot ist, schämen wir uns ein wenig. Šjor Tomo, der Vater von Josip, ist Marinetaucher in Pension, aber seit Kindertagen nennen wir ihn in seiner Abwesenheit abwertend nur "kesonac". Das ist das kroatische Lehnwort für einen Arbeiter, der in einem Senkkasten (frz. Caisson) Schlamm schaufelt, damit ein Brückenpfeiler unter Wasser errichtet werden kann. Wir nennen ihn so, weil er uns oft und ausgiebig mit seinen Unterwasserabenteuern quält, die wir Kids allesamt als Aufschneiderei empfinden.

Doch in der Tat ist Šjor Tomo kein Aufschneider, nur ein schlechter Geschichtenerzähler. Tomislav Butković ist einer der wenigen Taucher weltweit, die mit Jacques Cousteau tauchen. Selbstverständlich ist er vom Jugoslawischen Geheimdienst beigestellt, damit Cousteau gewisse "Geheimnisse der Adria" - so der Titel des berühmten Dokumentarfilms - eben nicht entdeckt. Šjor Tomo wird auch gerufen, wenn Tote zu bergen sind. Er holt frische und sehr alte Leichen aus Autowracks in reißenden Flusstälern, tiefen Stauseen, gesunkenen Schiffen und U-Booten. Einmal auch die Leichen italienischer U-Bootfahrer aus dem ersten Weltkrieg, deren Körper scheinbar perfekt erhalten sind, aber bei der kleinsten Berührung zu organischem Schlamm zerfallen. Ich bewahre zu Hause noch immer den Höhenmesser eines Jagdflugzeuges aus dem zweiten Weltkrieg, den Šjor Tomo aus der Adria holt und mir schenkt.

Nach einer langwierigen und erfolgreichen Krebstherapie tötet ihn ein Schlaganfall. Vor einigen Tagen wird die letzte Beatmungsmaschine im Leben des Marinetauchers Tomislav Butković abgestellt.

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philip.blake

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