Warum man Twitter 2015 meiden sollte

Warum immer nur zu rauchen aufhören. Warum nicht zur Abwechslung digitale Suchtmittel wie Twitter absetzen oder gar nicht erst damit anfangen? Stark dosiert kann twittern Zeit, Haltung, Autorität, Konzentration, die Traumaffäre, die Beziehung, die Karriere oder gar das Leben kosten.

Der Reihe nach.

Bye-Bye Müßiggang

Ein abhängiger Twitterat tweetet noch im Bett diesen einen genialen Satz aus seiner Traumeingebung. Spätestens bei der ersten Haltestelle checkt er, ob sein Satz den polit-medialen Komplex bereits erschüttert. Früher beobachtete er, wie die Minuten auf der Anzeige Richtung Abfahrt strebten. Heute twittert er im Sekundentakt. Müßiggang war gestern.

Vielleicht beherrscht unser Twitterat die Blick gerade/Ellbogen raus/Handy in Augenhöhe-Haltung. Er gibt sie spätestens dann auf und verfällt in den Quasi-Modus, wenn er Kommentare auf seine Retweets in sein Smartphone hackt. Haltung war gestern.

Bye-Bye Vorbild

In den Augen der Schulkinder ringsum büßt er jegliche Autorität ein. Die denken sich, was an ihren Instagram-Selfies so schlimm sein soll. Gegen diesen nervösen Fernschreiber fern der Jugend nimmt sich ihr Smartphone-Konsum aus wie Nikotin zu Heroin. Vorbild war gestern.

Noch vier Minuten bis zur Bim. Bamm! Twitter-Homerun. Ein Twitter-Leitwolf hat den Satz retweetet. 100.000 potenzielle Leser. Und schon beißt der nächste dicke Fisch an, ein Politiker mit 40.000 Followern teilt den Satz. Er fühlt sich ein bisschen mächtig. Gesunde Selbsteinschätzung war gestern.

Bye-Bye Traumfrau

Sagen wir, unser Twitterat ist Single. Er wird es bleiben. Anders als Tinder oder Facebook ist Twittern nämlich asexuell. Das sexuell erregendste hier ist das Binnen-I. Ein Anmach-Tweet käme für die Twitteria so surreal rüber, dass er wohl als postfeministisches Zitat verstanden und diskutiert würde.

Die Frau an der Bim-Haltestelle, direkt auf der Bank gegenüber, hätte alles, was seine Traumfrau ausmacht. Blöd nur, dass er sie nie sehen wird. Denn eine Twitter-“Freundin“, deren Haar- und Augenfarbe man am Profilbild nicht erkennt, findet seinen Satz voll toll. Er tippt ein „Danke“ und merkt gar nicht, wie seine Traumfrau auf der Bank gegenüber ihren Blick nach anfänglichem Interesse wieder von ihm abwendet. Live-Flirten war gestern.

Noch zwei weitere Traumfrauen wird unser Twitterat an diesem Tag nicht ansprechen. Der Satz geht vor. Der wird von zig Leuten diskutiert und scheint mittlerweile in den Tagestrends auf. Da ist unser Twitterat mächtig #stolzdrauf.

Bye-Bye Beziehung

Daheim wartet nun das echte Leben auf ihn. Seine Bücherstabel, ein guter Film, und (wir wechseln zum Beziehungstwitteraten) seine Frau.  Er erzählt vom Tag, erwähnt aber den „Satz“ nicht. Sie hat Twitter längst als lästige Konkurrenz ausgemacht.

Dann erzählt sie vom Tag. Für seinen Geschmack etwas lang, denn ein Grün-Politiker hat seinen Satz für die Wiener Gemeindepolitik adaptiert, die ÖVP hält dagegen. Sein „Satz“ provoziert eine echte politische Debatte! Er lugt sehnsuchtsvoll zu seinem Smartphone, doch sie hört nicht auf, zu erzählen. Seine Augen flackern – nicht aus Liebe, sondern aus Nervosität.

Gott sei Dank zeigt das erste Bier seine Wirkung und er muss aufs Klo. Darf aufs Klo! Twittern. Was äre ein Shi* ohne Shi*storm? (dummerweise lässt das fuf-System das Wort nicht zu, daher der unnötige Stern). Wie ein heimlicher Raucher überzieht er die durchschnittliche Verweildauer. Er kehrt zurück an den Tisch. Ein Nebel der Schuld umweht ihn. Die Spannung zwischen den beiden steigt. Bald wird sie sich entladen. Gott sei Dank ist sie wenigstens auf Facebook. Die gemeinsame Zeit am getrennten Smartphone mag er am liebsten. Romantik war gestern.

Spät am Abend versucht er zu lesen, doch nach jeweils 140 Zeichen hat er einen Aussetzer. Er legt das Buch, dass er seit zwei Jahren fertig lesen möchte, wieder weg. Gerade noch rechtzeitig. Denn auf Twitter herrscht eine der Gutmenschinnen unseren Twitteraten an. Normal ist er Teil des Empöriums gegen Traditionalisten, Sexisten, Rassisten, Neoliberalisten. Doch nach vier Bier formuliert er im Affekt deftig zurück, so wie er es im Pausenhof gelernt hat. Er wittert die Shi*storm-Gefahr. Doch bevor er den Tweet löschen und Reue zeigen kann, schlägt ihm die Partnerin das Handy aus der Hand. „Ich oder Twitter!“ Bitte nicht jetzt, will er ihr klar machen. Nur noch diesen einen Tweet, es ist ein Notfall! Doch zu spät. Sie bricht aus seinem Vogelhaus aus und fliegt einer Offline-Beziehung entgegen. Partnerin war gestern.

Bye-Bye Ruf und Karriere

Er stürmt nicht ihr hinterher, sondern seinem Handy. Doch sein „jemand sollte Ihnen den Hintern versohlen“-Tweet ist bereits mit 160 Km/h auf der Sexismus-Schiene unterwegs. Einmal retweetet, nie mehr deleted. Guter Ruf war gestern.

Ohne Schlaf schleppt er sich am nächsten Tag in die Arbeit, fährt mit dem Auto zu schnell und gerät beim Twittern fast in den Gegenverkehr. Leben war gestern.

Ein Anruf aus dem Chefbüro. Er zittert. Denn sein Chef twittert. Hat er mitgelesen und feuert ihn? Karriere war gestern.

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Nein. „Twittern ist viel zu riskant und kostet alles, was das echte Leben ausmacht.“

He, unter 140 Zeichen! Ein Satz wie gemacht für Twitter!

Wir sehen uns auf Twitter. 2015!

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