Mit einigem physischen Abstand nimmt man politische Ereignisse in Österreich anders wahr. Vielleicht liegt es aber auch bloß daran, dass wir auf die Stichwahl zum Bundespräsidenten zusteuern, die so polarisierend und spannend wie nie zuvor eine ist. Der Bundespräsident, formal gesehen ja „der erste Mann im Staat“ wird für die nächsten sechs Jahre aus einem politischen Lager kommen, das zurzeit nicht in der Bundesregierung vertreten ist. Die dahinterstehende Fraktion möchte möglicherweise in der nächsten Wahlperiode ebenfalls in der Bundesregierung mitmischen – grundsätzlich eine berechtigte Forderung, da der letzte Nachhall der SPÖVP-Koalition wohl bald verklungen sein dürfte (es ist ein internationales Phänomen, dass sich weniger Wähler für die traditionellen Lager interessieren).

Bedenklich finde ich die Ideologie und Ziele von Hofer/Strache bzw. der Freiheitlichen Partei: sofern ich das richtig verstanden habe, möchten sie erst einmal alles Andersartige verbieten (Fremdsprachen, Menschen mit anderer Herkunft, Verschleierung im Alltag) und dann wollen sie aus der EU austreten. Vielleicht fehlt es an Geschichtsbewusstsein – aber die Europäische Union ist ein Friedensprojekt, das darauf baut, dass sich die Bürger untereinander vernetzen und sich die Kulturkreise miteinander vermischen (speziell für Studenten und reisefreudige Menschen wie mich wichtig: Auslandssemester in einem der 27 EU-Mitgliedsstaaten, das wäre dann wohl Geschichte!). Vor nicht ganz achtzig Jahren gab es eine Phase, in der fremdsprachige Hörfunksender verboten waren, in der Personengruppen mit einer bestimmten ideologischen Ausrichtung als „an der Misere verantwortlich“ mit einem gelben Stern gekennzeichnet wurden, in der wirtschaftliche Stagnation zu stark ansteigender Arbeitslosigkeit führte, in der man Produkte aus anderen Regionen des Kontinents nur schwer bekam und die Ausreise stark erschwert wurde. Klar kann man die Verwendung von „88“ auf Stutzen als Lieblingszahl titulieren, einschlägige Gesten als die Bestellung von drei Bier abtun, die Farbe von Kornblumen als Lieblingsfarbe auserwählen, lächelnd neben Hakenkreuzen posieren und hinterher erklären, man habe die perfekte Geometrie so beeindruckend gefunden und so weiter – das ändert jedoch nichts daran, dass ich persönlich die Verwendung von Symboliken des Dritten Reiches stark ablehne – auch wenn die breite Öffentlichkeit dem scheinbar neutraler gegenübersteht. Das sind aus meiner Sicht zentrale Vorzeichen für kriegsähnliche Zustände, und alle bejaht die FPÖ unter Hofer/Strache: Asylsuchende sollten möglichst hinter den Zäunen bleiben, vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, Fremdsprachigkeit (im Sinne von: Türkisch, Arabisch usw.) an Schulen gehört verboten, weiters soll das Wirtschaftsmodell durch den Austritt aus der EU erheblich verkompliziert werden (natürlich sagen die das nie so offen, es heißt dann eher, „Nächstenliebe“ beschränkt sich auf Inländer). Ich halte mich für einen Teil der Bildungselite und bin daher bereits auf der ernsthaften Suche nach Alternativen, damit ich im Falle des Falles rasch das Land verlassen kann, bevor alles dichtgemacht wird. Van der Bellen beschreibt in seinem Buch „Die Kunst der Freiheit in Zeiten zunehmender Unfreiheit“, dass totalitäre Regimes im digitalen Zeitalter vermutlich deutlich schwerer zu überwinden seien – weil der oder die Machthaber jederzeit wie in Stasi-Zeiten auf einen gigantischen Informationsschatz (Stichworte: Vorratsdatenspeicherung, Staatsschutzgesetz, Bundestrojaner) zur Denunziation Einzelner zurückgreifen könnten.

Zwei Strohhalme habe ich diesbezüglich: einerseits fanden rund zwei Drittel der Wähler im ersten Wahlgang, dass Hofer nicht die beste Option sei und dann würde es immer noch bis frühestens Herbst 2018 dauern, bis Österreich tatsächlich aus der EU draußen ist – dann fangen die Probleme erst so richtig an: Grenzkontrollen (gut, das sind wir ja schon gewohnt), Währungsumstellung mit starken Preisanstiegen (nicht umsonst hieß der Euro anfangs Teuro – weil eine Umstellung erstmal dazu führt, dass alles teurer wird), Beseitigung der Grundfreiheiten (Reisefreiheit, ungehinderter Kapital- und Warenverkehr mit den Nachbarstaaten). Seltsam – eine Partei, die Freiheit in ihrem Namen trägt, setzt sich offensiv für die Abschaffung gewohnter freier Standards ein. Der Austritt aus der EU ist kein Rosinenpicken: wer draußen ist, verliert selbstverständlich auch die Vorteile. Mal ehrlich, ich möchte nicht am Salzburger Bahnhof ein Arbeitsvisum für Deutschland beantragen wollen, ich würde gerne weiterhin italienischen Wein zu erschwinglichen Preisen genießen, ich verstehe Grenzkontrollen innerhalb der EU bis heute nicht (das Schengener Abkommen in den 90er Jahren sollte eigentlich dazu geführt haben, dass zwischen Österreich und Deutschland an der Grenze nicht penibel geschaut wird, wer da herumreist), ich möchte mich nicht dafür rechtfertigen müssen, wenn ich mein Erspartes im Ausland investieren möchte. Van der Bellen hat dafür einen interessanten Begriff gefunden: die FPÖ und damit auch Hofer wünschen sich eine „freiwillige Verzwergung“ Österreichs im globalen Kontext. Das, was die EU beschließt, wird weltpolitisch einigermaßen akzeptiert – weil da 28 Staaten dranhängen. Werden einzelne Staaten wie Benin, Bolivien, Burkina Faso, Burma oder Burundi als relevant wahrgenommen? Obwohl all diese Staaten mehr Einwohner als Österreich haben: klares Nein – weil ihnen eine starke Lobby wie die EU fehlt. Österreich würde in die internationale Bedeutungslosigkeit absacken, wenn dieser Schritt umgesetzt wird. Achja, um mit einem weiteren Vorurteil aufzuräumen: manche Menschen glauben, der Staat Österreich hafte für die Schulden der anderen Mitgliedsländer – das ist schlichtweg falsch. Österreich haftet für die HYPO Alpe Adria, aber nicht dafür, wenn der Staat Portugal seine Schulden nicht zurückzahlen kann („No-Bail-Out-Klausel“). Wenn der Staat Portugal seine Schulden nicht zurückzahlen kann – dann haftet erstmal, richtig geraten: Portugal dafür. Problematisch wird es allerdings, wenn Österreich aus der EU austritt (den Haftungsschirm verlässt) und man dann draufkommt: hoppla, der Staat Österreich schuldet Finnland noch 100 Milliarden Euro aus einem Kredit und kann den nicht zurückzahlen. Österreich müsste folglich Zahlungsunfähigkeit (Insolvenz) bekanntgeben und das Wirtschaftssystem „resetten“ – mit schwerwiegenden Folgen für alljene, die ihr Erspartes aktuell bei Banken liegen haben, denn diese Ersparnisse sind dann mit einem Schlag nichts mehr wert. Mit dem Haftungsschirm zahlt jedes Mitgliedsland einen vergleichsweise geringen Betrag ein und man kann sich darauf verlassen, dass es nicht zu unvorhersehbaren Zahlungsausfällen kommt. Bei Griechenland wird die Situation noch ein Stückchen absurder: Deutschland, Frankreich und all die anderen großen Nationen werden jeder weiteren Rettungsaktion zustimmen, mit einer einfachen Begründung: das Geld aus dem Rettungspaket wird Griechenland zugeschoben, Griechenland bedient damit seine Schulden, beispielsweise bei einer deutschen Bank, die griechische Staatsanleihen zu unanständig hohen Zinsraten jenseits von 20% jährlich aufgekauft haben. Das ist so, wie wenn man einen Bernhardiner vor einen Futternapf setzt und ihn fragt: möchtest du, dass Frauli dir heute die doppelte Portion in den Napf schüttet? Da wird der verfressene Bernhardiner zu sabbern anfangen ...

Keine Frage, ich halte zu beiden Kandidaten der Bundespräsidentenwahl eine kritische Distanz, obwohl mich mein intellektueller und familiärer Hintergrund in Richtung eines Kandidaten optieren lässt. Beide haben Ansätze dabei, die für mich nicht unterstützenswert sind, aber zur Verdeutlichung nochmals die Positionen im Hinblick auf die EU: Hofer will austreten und Österreich abschotten, van der Bellen möchte drinnenbleiben und das System weiterentwickeln, weil er die Notwendigkeit zur Umstrukturierung sieht. Ich bevorzuge hingegen eine andere Option: drastische Reduktion der Kompetenzen der EU, mit dem Ziel, über wenige Grundfreiheiten, Grundrechte und Grundpflichten das Zusammenleben der Bürger „minimalinvasiv“ zu regeln. Ich denke, wir sollten analog zur Grundrechte-Charta auch eine Grundpflichte-Charta der Europäischen Union entwickeln. Da könnten dann Dinge drinnenstehen wie beispielsweise der respektvolle und tolerante Umgang mit seinen Mitmenschen (Flüchtlingsheime anzünden – pfui!) oder eine Verpflichtung zur Reinhaltung seiner Umwelt (Mülltrennung, Abfälle nicht im Wald deponieren). Einen besonderen Stellenwert hat aus meiner Sicht soziales Engagement: wer nicht einmal bereit ist, einen Teil seiner Zeit mit hilfsbedürftigen Menschen zu verbringen, der hat wohl nicht ganz kapiert, worauf das Konzept des Zusammenlebens aufbaut. Ich denke mir, die ganze Debatte um „soll ein Asylsuchender hier bleiben dürfen?“ könnten wir uns ersparen, wenn wir Grundrechte an Grundpflichten koppeln, nach dem Modell: es ist hier jeder willkommen, der sich ein Minimum zum Wohl der Gesellschaft einsetzt. Rassisten und Störer des friedlichen Zusammenlebens, da könnte man doch mal darüber nachdenken, ob die einen gutbezahlten Arbeitsplatz oder Anspruch auf Mindestsicherung bekommen sollen.

Ich teile die generelle Auffassung, dass viele Gesetze in unsere unbeschränkbaren Freiheiten und Wahlrechte eingreifen. Die Idee von van der Bellen imponiert mir dabei (er brachte das Beispiel im Zusammenhang mit der Weitergewährung von Subventionen): wir sollten alle Gesetze daraufhin überprüfen, ob es gerechtfertigte Gründe für die Beibehaltung dieser konkreten Regelung gibt. Falls nicht – sofortige Aufhebung. Ich denke, man sollte bei Dingen, wo man sich bloß selbst gefährdet, das Wahlrecht haben, ob man sich in die gefährliche Situation bringt. Einem Fahrschüler sollte man erklären, welchen Sinn das Anschnallen im Auto hat – und fertig. Keine Strafen für nicht-angeschnalltes Fahren! Von dem Problem weiß man seit über 100 Jahren, der Staat bekommt dadurch Steuern, es gibt Altersgrenzen zur aktiven Benutzung – eigentlich wie bei Zigaretten. Nur mit dem Unterschied: dort wird man nicht jedes Mal mit € 36,- Strafe belegt, wenn man sich selbst gefährdet. In diesem Sinne: bieten wir dem mündigen Bürger Wahlrechte im Zusammenhang mit der Selbstgefährdung konsequent bei allen Themen gleichermaßen an und heben damit eine Vielzahl von Gesetzen auf.

Zwei oftgehörte Sätze stören mich in diesem Zusammenhang besonders: „Ich habe doch nichts zu verbergen“ und „Ich kann doch eh nix machen“. Zu ersterem Unding: gut, dann hätte ich gerne Zugang zu deinem Konto, deinem Smartphone, deinem Auto, deiner Wohnung, deinen E-Mails, deinem Laptop – einfach mal schauen, ob ich da was Interessantes finde, womit ich dich erpressen könnte. Du hast eine Rechnung zu spät bezahlt? Du bist fremdgegangen? Du schaust dir Pornos an? Du investierst in Steueroasen? Du bist mal zu schnell gefahren? Du hast Nacktfotos? Du hast deinen Arbeitgeber belogen, weil du blaumachen wolltest? Das Kind ist gar nicht von deinem Freund? Du hast Krebs? Wenn du immer noch denkst, nichts zu verbergen zu haben, so bitte ich dich um eine kurze E-Mail, dann werde ich mir die besonders hartnäckigen Fälle genauer anschauen. Spaß beiseite: Privatsphäre ist eine der zentralen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte und sollte nicht durch staatliche Geheimdienste oder private Schnüffler angetastet werden. Der Staat hat uns garantiert, dass er unsere Privatsphäre achtet – weil jeder etwas zu verbergen hat! Zum zweiten Unding: wenn ein Einzelner etwas ändern könnte, dann wäre das Diktatur. Wir sollten das Wahlrecht als das nutzen, was es ist: ich habe das verfassungsmäßig garantierte Recht, meine Überzeugung festzulegen. Wenn dich keine der Optionen anspricht, so empfehle ich dringend Weißwählen: dies ist ein Statement, weil dann kommt am Ende bei einer Wahl raus: 90% Wahlbeteiligung und nur 1/3 davon waren gültige Stimmen – dann käme die politische Elite vielleicht schon drauf (sofern sie es nicht eh schon leise ahnen), dass mit dem System etwas nicht passt. Nicht-Hingehen mit dem Argument, dass eine einzelne Stimme nichts verändert, ist aber wohl das Verkehrteste. Weil dann gehen irgendwann nur mehr der Bürgermeister, der Landeshauptmann und der Bundespräsident zur Wahl und legitimieren sich selbst. Da kann ich mich genauso gut selbst bei einem Online-Voting zum Schönheitsprinzen küren – politische Kompetenz habe ich in beiden Fällen jedenfalls nicht bewiesen.

Für einen Juristen und Ökonomen bietet diese Thematik viele interessante Perspektiven, und sicherlich überschneiden sich Wahlrechte und Grundpflichten auch manchmal. Ich habe das Wahlrecht, einen Artikel wie diesen zu verfassen (Meinungsäußerungsfreiheit) und erfülle damit möglicherweise auch bereits die Grundpflicht zum sozialen Engagement (Informationen aufbereiten und Lösungsansätze zur Diskussion stellen). Was für mich allerdings die erfreuliche und zentrale Botschaft ist: wir haben in so vielen Bereichen die Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung, nutzen wir diese Chance doch! Ich spüre im Zuge dieser Bundespräsidentenwahl doch ein wenig diese Aufbruchseuphorie, wo den Menschen bewusst wird: hey, mit meiner Stimme kann ich etwas beeinflussen. Also gut, nutzen wir diese Euphorie und sammeln Themen, die wir gerne verändern möchten – warum sollen darüber immer nur die anderen debattieren und entscheiden dürfen, wenn es doch uns alle etwas angeht?

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