Für viele EU-ler gibt es ganz einfache Brexit-Erklärungen: die Briten seien einfach rechtsextrem, sie seien ausländerfeindlich, sie seien verliebt in ihr versunkenes Weltreich, sie seien einfach eine arrogante Großmacht.

Selbstkritische Einschätzungen, Erwägungen, was der eigene Anteil am Brexit sein könnte, kommen am "Kontinent" praktisch nicht vor: wer in Kontinentaleuropa die These vertritt, die Briten seien nicht 100%ig alleine schuld am Brexit, läuft sehr schnell Gefahr, ins rechtsextreme Eck gerückt zu werden.

Was man auch als Demokratiedefizit der EU sehen kann.

Aber die Wahrheit ist wohl eine andere:

Es gibt in der EU eine Ungleichbehandlung der sechs Gründungsmitglieder (D, F, I, NL, Bel, Lux) und der anderen Mitglieder.

Die sogenannten Spitzenkandidaten bei den letzten 2 EU-Wahlen kamen ausschliesslich aus diesen sechs Gründungsländern: Schulz (D), Juncker (Lux), Keller (D), Weber (D), Timmermans (NL).

Und auch das zwischen der sogenannten deutsch-französischen Achse ausverhandelte Personalpaket widerspiegelt ebendieses: Von der Leyen (D) soll Kommissionspräsidentin werden, Lagarde (F) EZB-Präsidentin.

Aber die Bevorzugung der Gründungsmitglieder, insbesondere von Deutschland und Frankreich geht viel weiter als das:

Wenn zum Beispiel britische Automobilkonzerne die Abgasobergrenzen überschreiten, müssen sie dafür Strafe zahlen; wenn deutsche Automobilkonzerne die Abgasobergrenzen überschreiten, dann werden einfach die Abgasobergrenzen der EU erhöht; und das war ein ganz wesentlicher Aspekt des sogenannten Abgasmanipulationsskandals, in den die deutschen Konzerne, VW, Porsche und BMW verwickelt waren.

Weil eben deutsche Konzerne innerhalb der EU praktisch unkritisierbar sind, musste es wohl ein US-amerikanischer Konsumentenschützer sein, der diesen Abgasmanipulationsskandal aufdeckte: europäische Journalisten und Konsumentenschützer leisteten in dieser Hinsicht nichts, vielleicht auch aus der Angst heraus, eben deswegen (wegen einer etwaigen Aufdeckung des Abgasmanipulationsskandals!) als rechtsextrem und antieuropäisch abgestempelt zu werden.

Und auch das ist ein Aspekt des EU-Demokratiedefizits, das wohl mit ein Grund für den Brexit war.

Aber das betrifft nicht nur Autokonzerne, sondern auch Staubsaugerkonzerne: wenn deutsche Staubsaugerkonzerne Vorteile für sich selbst herausholen wollen, dann geht das ganz einfach über die Politik und über die deutsche Dominanz in der EU.

Wenn britische Staubsaugerkonzerne (wie beispielsweise Dyson) diese deutschen Vorteile, die Nachteile für die Briten sind, wegbekommen sollen, müssen sie einen jahrelangen, mühsamen und teuren Klagsweg beschreiten, der ihren rechtswidrigen Wettbewerbsnachteil während des Klagsverfahrens festschreibt.

Es ist klar, dass die deutsch-französische Dominanz in der EU sich bei allen anderen, insbesondere den Briten, die auf die EU nicht unbedingt angewiesen sind, nicht beliebt macht.

Dazu kommt noch, dass EU-Kommissionspräsident sich allzu oft als Wasserträger des französischen Präsidenten oder der deutschen Kanzlerin verstehen: wenn Frankreich als einziges Land eine Ausnahme von den Maastrichtregeln will, bekommt es die - "weil es Frankreich ist", wie der frühere Eurozonensprecher Dijsselbloem und in der Folge auch Juncker sagten.

Wenn die deutsche Kanzlerin Merkel EU-Quoten für Flüchtlinge will, dann bemüht sich der Kommissionspräsident und die gesamte Kommission, diese umzusetzen, wenn andere Regierungschef etwas wollen, dann haben sie sich viel schwerer, sich damit durchzusetzen.

Dazu kommt noch die Währungs- und Zinspolitik: die EZB betrieb eine Nullzinspolitik, die zum Kursverfall des Euro und zu Verschiebungen in der Handelsbedingungen, zu großen britischen Handelsbilanzdefiziten und großen Eurozonen-, insbesondere deutschen und holländischen Exportüberschüssen führten.

Der Brexit und der darauf folgende Kursverlust der britischen Pfund Sterling hat eben die extreme Handelsbilanzunausgeglichenheit verringert, die mit eine Brexit-Ursache war.

Und dann war da noch die "gemeinsame" Rüstungspolitik: während Deutschland und Frankreich sich lange Zeit alternativlos auf einen defensives, tarnkappenloses, fast reines Jagdflugzeug wie den Eurofighter und den ähnlichen Dassault Rafale festgelegt hatten, wollten die Briten ein offensiveres, getarntes Kampfflugzeug und mussten sich eben deswegen am US-amerikanischen Joint Strike Fighter-Projekt (F-35) beteiligen, weil sie dafür damals in der EU keinen Kooperationspartner finden konnten.

Dazu kamen dann noch die Fragen der polnischen Arbeitsmigranten und der Syrienflüchtlinge, die Großbritannien bzw. den Ärmelkanal erreichten, so als wären sie in allen Ländern dazwischen durchgewunken worden.

Ich finde, wir Nicht-Briten sollten einmal ernsthaft selbstkritisch werden, um weitere Austritte ähnlich dem Brexit zu verhindern.

Die Briten für verrückt zu erklären und den neuen britischen Premier Boris Johnson zum verückten, verlogenen Clown zu erklären, dürfte nicht ausreichen, um die EU erstens zusammen- und zweitens funktionsfähig zu halten.

https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Johnson

OGL / UK Government https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Johnson#/media/Datei:Boris_Johnson_FCA.jpg

Der neue britische Premierminister Boris Johnson: mehr als der "verrückte, lügnerische Clown", als den ihn zahlreiche kontinentaleuropäische Medien proträtierten, sondern ein profunder Kritiker von Mißständen innerhalb der EU ?

CC / Rijksoverheid.nl https://de.wikipedia.org/wiki/Jeroen_Dijsselbloem#/media/Datei:Jeroen_Dijsselbloem_2013-1.jpg

Der frühere niederländische Eurozonensprecher Dijsselbloem übte noch Kritik an französischen Extrawürsten und Ausnahmeregeln, seit seinem Abgang fehlt eine derartige Stimme der Kritik, bzw. sie ist nur aus Großbritannien zu vernehmen.

Selbstzelebration der deutsch-französischen Achse anläßlich des VonDerLeyen-Lagarde-Kompromisses in der Zeitung "Le Monde", so als gäbe es außer Deutschland und Frankreich kein EU-Mitgliedsland.

Eine Möglichkeit, ein etwaiges französisches Vetomonopol zu handhaben, wäre die Europäisierung des ständigen Sitzes und des Vetorechts von Frankreich, so ähnlich wie das die österreichische Aussenministerin Benita Ferrero-Waldner vor ca. 15 Jahren vorschlug.

Das französische Veto spielt auch historisch eine Rolle: bereits 1961 und 1967 beantragte Großbritannien die Mitgliedschaft in der EWG, scheiterte aber damit am Veto Frankreichs, bzw. seines Präsidenten Charles De Gaulle, dem es möglicherweise auch um die Aufrechterhaltung des französischen Vetomonopols ging, und mit um die von ihm behauptete Unvereinbarkeit Großbritanniens mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

CC / Oktobersonne https://de.wikipedia.org/wiki/Benita_Ferrero-Waldner#/media/Datei:BenitaFerrero-Waldner2017L1110082_(3).jpg

Frühere Aussenministerin Ferrero-Waldner: Europäisierung des ständigen UNO-Sicherheitsratssitzes als Mittel zur Verhinderung eines französischen Vetomonopols ? Sie hatte zwar damals nicht an den Brexit gedacht, aber durch einen etwaigen Brexit gewinnt der Gedanke neue Aktualität.

P.S.: Die Korruption der dominierenden Großmächte nach einen stolz und freudig, ein kleinstaatlerischer Österreicher zu sein.

statista.de https://de.statista.com/statistik/daten/studie/15634/umfrage/handelsbilanz-von-grossbritannien/

Britische Handelsbilanz: nach bzw. durch Finanzkrise/ EZB-Nullzinspolitik besonders defizitär, auch im Brexitjahr 2016, seither relativer Trend Richtung mehr Ausgeglichenheit.

P.S.2: dass das "I want my money back", mit dem Margaret Thatcher in den 1980er Jahren durch die Medien ging, später relativiert wurde dadurch, dass Tony Blair großzügige EU-Beiträge durchgesetzt hatte, dass Großbritannien wegen des geringen Landwirtschaftssektors nur gering von den Agrarföderungen der EU profititierte, dass GB von den großen Vier bzw. Fünf das schlechteste Verhältnis von Zahlungen an die EU und leistungserhalt durch die EU hatte, all das blieb in kontinentaleuropäischen Medien weitgehend unterthematisiert.

P.S.3: ein großes Problem der europäischen Integration ist auch, dass Meinungsverschiedenheit wegen der Sprachbarrieren nicht ausdiskutiert werden, bzw. werden können, sodass sich der Antieuropäismus- bzw. Rechtsextremismusvorwurf zu einem scheinbar alternativlosen Keulen-"Argument" entwickelt hat.

P.S.4: mit dem Brexit ergäbe sich auch das Problem, dass ein französisches Vetomonopol entstünde: Frankreich wäre dann das einzige EU-Mitgliedsland, das einen ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat mit Vetorecht hat, d.h. es könnte jede EU-Aussenpolitik, die zumindest teilweise über die UNO läuft, blockieren, und durch diese Vetodrohung die EU-Politik Richtung französische Interessen steuern. Durch dieses französische Vetomonopol könnte das europäische Gleichgewicht der Großmächte beträchtlich außer Balance kommen.

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