Jetzt haben wir den Salat. Offensichtlich da ein Austritt eines Staates aus der EU für die vertiefungsfantastischen Utopisten völlig denkunmöglich erschien, waren die Ausstiegsklauseln in den EU-Verträgen scheinbar nur grottenschlecht gemacht, und jetzt durch die Brexit-Abstimmung könnte ein rechtliches Riesenchaos drohen. Ob die EU-Wahl gültig sein wird oder nicht, ob Mehrheiten im EU-Parlament gültig sein werden oder nicht, ob britische Stimmen mitgezählt werden müssen oder nicht, kann zur Zeit niemand sagen.

Durchaus möglich, dass sowohl EU als auch Großbritannien in einem rechtlichen Chaos versinken, das völlig unbeherrschbar wird.

Da ist es vielleicht besser zu sagen: freeze. Wir frieren den jetzigen Zustand oder den Zustand kurz vor der Brexit-Abstimmung ein, weil alles Weiterwurtschteln auf der rechtlich-dünnen EU-Austrittsgrundlage das Chaos nur verschlimmern kann.

Natürlich müssen zahlreiche Fragen weiter diskutiert werden, aber diese Debatten müssen in allen Parlamenten und insbesondere auch im britischen erfolgen.

Rein rechtlich wird es vielleicht sogar zwei parallele EU-Kommissionen geben müssen, eine EU-28-Kommission unter Einbeziehung Großbritanniens und eine EU-27-Kommission, in der Großbritannien nicht vertreten ist.

Vielleicht werden alle EU-Parlamentsentscheide doppelt ausgezählt werden müssen, einmal mit britischen Stimmen und einmal ohne.

Wie man mit dem Schlamassel speziell im worst-case umgehen wird, ist mir noch ein Rätsel.

Der Fall der mangelhaften Ausstiegsklauseln, der nicht genügend präzisierten Ausstiegsprozedere in den EU-Verträgen, der mangelhaften Methodenkritik und des Populiusmus der politschen "Eliten" könnte einen krassen Fall von Elitenversagen darstellen, "würdig" für die Aufnahme als zusätzliches Kapitel in das Buch "Die Torheit der Regierenden" von Barbara Tuchman.

Falls ein Brexit wirklich erfolgt, könnte er zu einer schweren Krise in der Beziehung der EU zu Großbritannien führen, die sich auch, da sowohl Großbritannien als auch Frankreich Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat haben zu einer schweren UNO-Krise auswachsen kann.

Das Verhalten des französischen EU-Verhandlers Barnier erinnert eigentlich mehr an die Vetos, die der französische Präsident Charles De Gaulle zweimal in den den 1960er Jahren gegen eine Mitgliedschaft Großbritanniens einlegte, als an seriöses europäisches Denken.

http://news.bbc.co.uk/onthisday/hi/dates/stories/november/27/newsid_4187000/4187714.stm

Die EU-"Schrottverträge" sind vielleicht auch ein Grund, warum Parteien wie die NEOS blutjunge Kandidatinnen wie Claudia Gamon ins Rennen schicken, da man diesen wegen ihrer Jugend nicht vorwerfen kann, für die "Schrottverträge" verantwortlich zu sein.

Hier der Wortlaut:

„(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.

(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.

(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.

(4) Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der entsprechenden Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil. Die qualifizierte Mehrheit bestimmt sich nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

(5) Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.“

Ständig ist nur von einem "Staat" die Rede, wodurch dieser Staat vertreten sein soll, ob die Regierung das Recht hat, den Staat zu vertreten und im Namen des Staates zu entscheiden, ob das Parlament oder nur das Volk in einem Referendum, bleibt offen.

Problematisch ist auch die Formulierung des Staatswillens, auszutreten. Ob ein Referendum, das auch von anderen Motiven getragen sein kann, wie z.B. Ablehnung der Regierung z.B. wegen des Streits zwischen Premier Cameron und Schatzkanzler Osborne, als Staatswillen auszutreten, betrachtet werden kann, ist äußerst zweifelhaft. Lut britischem Recht sind Referenden eher das, was bei uns unverbindliche Volksbefragungen wären, und können vom Parlament überstimmt werden. Ein Unabhängigkeitsreferendum wie in Slowenien im Jahr 1990 mit einer JA-Mehrheit von über 90% hat eine ganz andere Klarheit als eine 51.x %-Mehrheit wie beim Brexit oder eine 50.x%-Mehrheit wie beim AKW Zwentendorf.

Der Wille, aus einer Union auszutreten, kann ja auch mit den Bedingungen, die mit dem Austritt verknüpft sind, zusammenhängen.

Daher kann es problematisch sein, einen Staatswillen, auszutreten, in die EU-Verträge zu schreiben, der von den Bedingungen absieht.

Auch nicht festgeschrieben wurde, z.B. ob der Austritt, falls er mit einem Referendum eingeleitet werden soll, einen gewissen Sicherheitspuffer für EU-ferne Abstimmungsmotive haben soll, ob zum Beispiel ein Referendum nur ab 55% gültig ist.

Angenommen, der Streit zwischen Cameron und Osborne rund um die Frage, ob ein Brexit Steuererhöhungen erforderlich macht oder nicht, hat 2% der Wähler dazu bewegt, statt mit Remain mit Brexit zustimmen, dann war diese geringe Menge an inner-britisch motivierten Stimmen ausschlaggebend für die Mehrheit.

Ähnliches gilt für die Stimmenthaltung der Jungwähler bei dieser Abstimmung. Viele junge Wähler brauchen einfach viel länger zur Entscheidungsfindung und zur Willensfindung, sodass bei großer Enthaltung der Jugend von der Abstimmung von einem "Staatswillen" vielleicht gar nicht gesprochen werden kann.

Da das Brexit-Abstimmungs-Ergebnis sowieso sofort europaweit bekannt wurde, war eine Bekanntmachung an den Rat, wie im Vertrag vorgesehen, eigentlich völlig überflüssig.

Was ist, wenn das EU-vertraglich vorgeschriebene Austritts-Abkommen von der Bevölkerung in einem Referendum genauso abgelehnt wird wie die Mitgliedschaft ? Dieser Fall ist in den Verträgen nicht vorgesehen, weshalb im Falle des Auftreten sich ein völliges rechtliches Schwarzes Loch auftut (der Ausdruck kommt aus der Astro-Physik).

Es gibt auch die Theorie, Merkels "Wir schaffen das!"-Politik in Zusammenhang mit der Syrien-Flüchtlingswelle sei ausschlaggebend für das Brexit-Votum (und die daraus wahrscheinlich resultierende Hinwendung zu den USA) gewesen.

Aber was ist, wenn Merkels Großzügigkeit in Zusammenhang mit den Syrienkriegsflüchtlingen eine Art NATO-Solidarität in Zusammenhang mit Obama "Assad has crossed a red line"-Sager war ? Dann wäre Großbritannien wegen Ablehnung von NATO-Bündniszwängen aus der EU ausgetreten, nicht aber aus der NATO, alleine deswegen, weil es eine Brexit-Abstimmung gab, aber keine Abstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der NATO. D.h. die Briten hatten die Ablehnung der einen internationalen Organisation, nämlich der NATO, auf die andere (EU) übertragen. Derartige Motivübertragungen und Proteststimmungen und -motive treten bei Volksabstimmungen immer wieder auf.

Es wurde in meinem Blog ein Euronews-Video mit dem Titel "May appelliert, den Wählerwillen zu akzeptieren." eingeblendet. Welchen Wählerwillen ? Den Willen vor der Aushandlung des Austrittsabkommens oder den Willen nach der Aushandlung des Austrittsabkommens ?

Auch wenn der Brexit vor Aushandlung des Austrittsabkommens eine Mehrheit hatte, so ist sehr zweifelhaft, ob er nach der Aushandlung insbesondere dieses Abkommens noch einmal eine Mehrheit finden wird.

Eine weitere Frage ist, ob man über einen Brexit überhaupt abstimmen kann, weil er aus unzähligen Detailfragen besteht, über die man sinnvollerweise im Einzelnen abstimmen lassen soll.

Weder die Medien noch die politischen Parteien rechneten mit einem Nein, weshalb eine völlig andere Debatte erfolgte, als erfolgt wäre, wenn mit einem 50:50, einem Kopf-an-Kopf gerechnet worden wäre.

Auch das ist ein Argument dafür, dass das Brexit-Referendum nicht den Willen des Volkes gemessen hat, sondern irgendetwas völlig anderes, das möglicherweise eine momentane Aufwallung oder ein Protest gegen die Regierung war.

Camerons Konzept des "Drinbleiben und Neuverhandeln" als Referendumsziel war vielleicht mehr Wahlkampf in eigener Sache, als ernst gemeint, weil das Risiko für GB und EU größer war als der potenzielle Schaden. EU-Politiker übten, solange es so aussah, als würde Cameron damit Erfolg haben, keine Kritik an Camerons Procedere, obwohl das durchaus berechtigt gewesen wäre, und bezogen hinterher eine harte Position in den Verhandlungen. Die Verhandlungen sind geeignet, wegen der unterschiedlichen Größenordnung 400-Millionen-EU-27 gegen 60-Millionen-GB den Eindruck eines Diktats eines Großen gegenüber einem Kleinen zu erwecken und könnte daher eine globale PR-Katastrophe für die EU werden.

Der Rücktritt von Premier Cameron nach einem etwaigen Nein kündigte sich an, sodass die Briten vielleicht mit einem Nein gestimmt haben, um Cameron loszuwerden, und überhaupt nicht wegen der EU. Das trifft speziell für Labour-Sympathisanten zu, die glauben konnten, dass Camerons Rücktritt sicher sein würde, hingegen, weil Referenden in GB unverbindlich sind, das Parlament das Referendum überstimmen würde. Somit kann auch eine Brexit-Mehrheit wegen Cameron beim Referendum herauskommen, obwohl eine Remain-Mehrheit im Volk besteht. Daher ist es durchaus plausibel, dass die EU-Instanzen wie Kommission oder Rat EU-vertragswidrig gehandelt haben könnten, als sie den Brexit-Abstimmungs-Bericht der britischen Regierung kommentarlos entgegennahm, was als Einverständniserklärung verstanden werden musste, dass das Brexit-Referendum tatsächlich den Volkswqillen gemessen habe, was es wahrscheinlich gar nicht hat. Alle diese Ungereimtheiten, könnten, wenn sie beannt werden, eine massive EU-Krise verursachen, weshalb die Sache vielleicht vertuscht und "unter der Tuchent" gehalten werden muss, wie der frühere österreichische Kanzler Kreisky das einst nannte. Der Fehler bei der Entgegennahme und der mangelnde Hinweis darauf, dass das Referendum wahrscheinlich gar nicht den Volkswillen gemessen hat, ist ein Fehler der EU-Eliten, kein Fehler der EU-Verträge, die hier sehr klar von "Volkswillen" sprechen, und von nichts anderem.

Auf jeden Fall widerlegt das Brexit-Referendum und der Brexit-Prozess, wie unausgegoren sie auch immer sein mögen, Weltverschwörungstheorien, wie z.B. die des ehemaligen Grünpolitikers Johannes Voggenhuber, die Briten würden unbedingt in der EU bleiben wollen, um sie zu sabotieren und den Vertiefungsprozess zu sabotieren. Und so negativ der Brexit auch sein mag, so positiv bewerte ich die Widerlegung derartiger Verschwörungstheorien aus Ecken, die eher links bis linksextrem sind.

In dieser Hinsicht waren vielleicht überhaupt die erfolgten und EU-vertraglich vorgesehen Verhandlungen ein Fehler, und es hätte einzig und alleine eine Wiederholung des Referendums eine Fortsetzung im Prozess ergeben.

OGL / 10 Downing Street Archive https://de.wikipedia.org/wiki/David_Cameron#/media/File:David_Cameron_official.jpg

Der frühere britische Premierminister David Cameron stiess vielleicht die EU, Großbritannien und die EU-Verträge mit dem Ansetzen des Brexit-Referendums in eine tiefe Krise. Dass die Briten ihn ablehnten bzw. seinen Streit mit Finanzminister Osborne, war vielleicht der wirkliche Grund für den Ausgang des Brexit-Referendums.

Dass der jetzige Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn kein einziges Mal bemerkt hatte, dass das Brexit-Referendum kein bisschen mit GB und EU zu tun haben könnte, weist darauf hin, dass er ein hemmungsloser und/oder dummer Populist sein könnte, völlig ungeeignet, Großbritannien zu führen, egal, ob es in der EU bleibt oder nicht.

CC / z.g. Chris McAndrew https://en.wikipedia.org/wiki/Jeremy_Corbyn#/media/File:Official_portrait_of_Jeremy_Corbyn_crop_2.jpg

Der Vorsitzende der Labour Party, Jeremy Corbyn, kritisierte die vielen Fragwürdigkeiten des Brexit-Verfahrens und der Brexit-Abstimmung, die vielen Probleme der EU-Verträge, den Brexit zu handhaben, kein einziges Mal, was darauf hinweist, dass er strohdumm oder ein völlig moralloser Populist sein könnte.

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Dieter Knoflach

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