Ist Netanjahus Großisrael-Karte der wirkliche Anlass des Hamas-Terrors ?

Was wurde nicht alles behauptet, bzw. gelogen in den meisten Westmedien (auch Onlinemedien) über die angeblichen Motive der Hamas-Terrors: dieser Anschlag richte sich gegen westliche Werte, dieser Anschlag richte sich gegen die Demokratie, dieser Anschlag richte sich gegen das Judentum allgemein, dieser Anschlag erfolge aus Frauenfeindlichkeit, dieser Anschlag erfolge aus islamischem Extremismus, dieser Anschlag diene dazu, die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien zu sabotieren, etc.

Allerdings wurden dabei zahlreiche Möglichkeiten verschwiegen und vertuscht, wie es eben zur klassischen Kriegspropagandalüge passt.

Eine Möglichkeit wäre, dass dieser Hamas-Terror sich (auch) gegen eine Großisrael-Karte richtete, die der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu am 21. September 2023 bei einer UNO-Konferenz präsentierte:

https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-09/nahostkonflikt-benjamin-netanjahu-israel-palaestinenser-un-vollversammlung-kritik

Diese Karte, die Netanjahu unter dem Namen "New Middle East", also "Neuer mittlerer Osten" bei einer UNO-Versammlung präsentierte, enthielt weder die (den Palästinensern zuerkannte, eigentlich PLO-Fatah-gehörige) Westbank noch den Hamas-kontrollierten Gaza-Streifen als selbstständige oder autonome Staaten oder Regionen, sondern als ganz "normale" Teile eines neuen Groß-Israel. Es ist klar, dass diese Vorstellung, dass Netanjahu den Gaza-Streifen annektiert, nicht gefallen würde, und es war klar, dass diese Kartenpräsentation von Netanjahu als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, möglicherweise neuen Hamas-Terror zur Folge haben würde.

Einige wenige westliche Medien wie die "Zeit" berichteten über Netanjahus Großisrael-Karte, aber eben nur einige wenige, sodass Lügen über die angeblichen Hamas-Motive sehr erfolgsträchtig erscheinen konnten.

https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-09/nahostkonflikt-benjamin-netanjahu-israel-palaestinenser-un-vollversammlung-kritik

Aber die meisten Westmedien sind an tiefgehender Berichterstattung völlig uninteressiert, ignorieren und vertuschen das Vorfeld und wachen dann erst aus dem Tiefschlaf auf, wenn ein Terroranschlag passiert. Und auch dieser terrorlosigkeitsbedingte Schlafmodus der meisten Westmedien kann unter Umständen als eine Art mildernder Umstand für Terror gelten - ähnliches gibt es auf viel kleinerem Niveau auch bei Gewaltdemonstrationen, bei denen die Demo-Veranstalter kalkulieren, dass Gewalt nötig ist, damit die meisten Medien überhaupt über die Sache berichten, während die meisten Medien über eine "fade", gewaltlose Demo eben nicht berichten.

Weitere Theorien rund um das Terror-Motiv der Hamas, die in den meisten westlichen Medien fast völlig vertuscht und unterdrückt wurden, drehen sich um den 50-jährigen Jahrestag des Jom-Kippur-Kriegs 1973.

Damals überfielen zahlreiche arabische Staaten (die in Summe wesentlich mächtiger und gefährlicher waren als die Hamas) zum jüdischen Feiertag Jom Kippur Israel, vielleicht auch, um den Überraschungseffekt nutzen zu versuchen.

Allerdings stellt sich die Frage, auch in Anbetracht des Kriegsverlaufs, ob der israelische Geheimdienst von diesen Angriffsplänen Wind bekommen hat, und Israel daher besser vorbereitet war, als es tat.

Auf jeden Fall reagierte die damalige israelische Führung hinterher relativ vernünftig und strebte trotz des militärischen Sieges einen Frieden mit Ägypten an, der auf ägyptischer Seite einen ebenso friedenswilligen Gegenpart gefunden hatte, nämlich Anwar As-Sadat.

Israel gab im Camp-David-Frieden von 1978 die im Jom-Kippur-Krieg eroberte Halbinsel Sinai wieder ab, und erhielt dafür einen bis heute tragfähigen Friedensvertrag mit Ägypten, eine Sache, die eine etwaige zukünftige vernünftige israelische Regierung auch mit der Westbank oder den jüdischen Siedlungen dort machen könnte, nämlich sie für eine nachhaltige Friedenlösung abzugeben.

Der Jom-Kippur-Krieg und der damit verbundene Überraschungseffekt und die (im Vergleich zur militärisch schwachen Hamas) all-arabische Allianz ist heute so eine Art Bedrohtheitstrauma für Israel. Das zahlreiche Medien das Geschehen unter "Israel-Hamas-War" vermarkten, ist insofern verfälschend, als die Hamas viel zu schwach ist, um ein ernstzunehmender Kriegsgegner zu sein. Aber vielleicht hatten ja auch diese Medien die kriegspropagandistische Absicht, eine Assoziation zu Jom-Kippur-Krieg herzustellen und fälschlicherweise so zu tun, als wäre die heutige Hamas so gefährlich wie die damalige all-arabische Koalition. Auch das Gerede von "Selbstverteidigungsrecht Israels" ist irreführend, solange nicht dazugesagt wird, welches Israel gemeint ist, das von 1947/1948, das von 1966/1967, das von 1994 oder das von 2022 (je später, umso größer ist das betreffende angebliche "Israel" ).

Wenn man das Konzept der Offensivverteidigung als Beurteilungsgrundlage heranzieht, dann kann ein Terroranschlag der Hamas auf Territorium, das seit 1948 unbestritten Teil Israels ist, durchaus gerechtfertigt sein als Reaktion auf eine völkerrechtswidrige Eroberung der Westbank durch Israel. Wir können nicht im Falle der Ukraine die Position beziehen, dass das Verteidigungsrecht das Recht auf Offensivverteidigung umfasse, hingegen im Falle von Israel-Westbank-Gaza die genau gegenteilige Position beziehen, dass das Verteidigungsrecht in diesem Falle (der Palästinenser) das Recht auf Offensivverteidigung nicht umfasse. Auch das ist eine Doppelmoral, mit der der Westen Gefahr läuft, als tendenziell verlogen, doppelmoralgeprägt und prinzipienlos zu gelten.

So gesehen war es relativ unverständlich, dass die Hamas sich genau diesen Zeitpunkt des 50-jährigen Jom-Kippur-Jubiläums als Anschlags-Zeitpunkt aussucht, weil sie damit rechnen musste, dass Israel, insbesondere das Netanjahu-regierte Israel aufgrund dieses Jubiläums wahrscheinlich überreagieren würde, bzw. in verhältnismäßigkeitsprinzip-verletzender Art und Weise härter zurückschlagen würde, als sachlich gerechtfertigt.

Dass die Hamas trotz der Gefahr einer netanjahu-israelischen Überreaktion diesen Zeitpunkt wählte, kann neben Netanjahus Großisrael-Karte auch noch einen weiteren Grund haben:

der damalige ägyptische Präsident Anwar as-Sadat war derjenige, der 1973 den Jom-Kippur-Krieg gegen Israel geführt hatte, und wenig später, 1978, einen nachhaltigen Frieden mit Israel geschlossen hatte.

So gesehen kann man das auch als Andeutung verstehen, dass die Hamas, die derzeit das Existenzrecht Israels nicht anerkennt, diese Position Sadat-gleich ändern könnte und Israel in Zukunft anerkennen könnte, so wie das Hamas-Führer Hanijeh vor vielen Jahren als Möglichkeit angedeutet hatte.

All diese Möglichkeiten und Theorien über nicht völlig unverständliche Hintergründe des Hamas-Terrors wird man bei Rassisten und Rechtsextremisten und auch bei monster-geilen Medien niemals lesen, weil sie eben den Terror, bzw. seine einseitige Darstellung und den Skandal und die Monstrosität brauchen, um hohe Klickzahlen und hohe Verkaufszahlen und hohe Einschaltquoten und hohe Profite zu erreichen.

Somit stellt sich die Frage, ob nicht wahrheitsunfähige und vorverurteilende Medien, Journalisten und Blogger ähnlich schuld am Konflikt sein könnten wie die durchaus problematischen Aspekte der Hamas.

Ich kann mich nicht erinnern, dass über den Terror der Südtirol-Bumserer der 1960er Jahre (der sich allerdings nur gegen Sachen richtete) bzw. des BAS ("Befreiungsausschuss Südtirol" ), oder über den (katholischen) IRA-Terror ("Irish Republican Army" ) der 1980er- und 1990er-Jahre bzgl. Nordirland, der auch die Sprengung des Grand Hotel in Brighton enthielt, wo gerade ein Tory-Parteitag stattfand (fünf Tory-Politiker starben damals terrorbedingt), ähnlich verfälschend und einseitig berichtet wurde, wie heute über den Hamas-Terror.

Der Südtirol-Konflikt und der Nordirland-Konflikt endeten vermutlich auch wegen dem Terror nicht mit einer radikalen Vorgehensweise gegen Bumserer und IRA, sondern mit dem Abschluss von Autonomiepaketen (Südtirol-Autonomie-Paket und Karfreitagsabkommen bzgl. Nordirland), die für beide Seiten akzeptabel waren. Dass sowohl Netanjahu als auch die Hamas geschwächt aus dieser Auseinandersetzung hervorgehen dürften, könnte man als durchaus positiv und chancenreich in Bezug auf eine Wiederbelebung des Oslo-Prozesses betrachten, der durch die von Netanjahu tolerierte Ermordung des israelischen Premiers Yitzhak Rabin 1995 stark beschädigt wurde.

Wenn Putin die Halbinsel Krim annektiert, dann ist das ein Riesenskandal für die meisten Medien, hingegen wenn Netanjahu die Westbank annektiert, dann ist das den meisten Westmedien absolut recht - wie doppelmoralgeprägt kann man eigentlich sein ? Wenn Netanjahu-Israel die Palästinenser "warnt", den Gaza-Streifen zu verlassen, ansonsten getötet zu werden, dann sei die israelische Kriegsführung laut "unseren" Kriegspropagandamedien die "humanste der Welt", wenn hingegen Putin praktisch dasselbe macht, mit der Rede von der "Einheit der Russen und Ukrainer" den Ukraine-Krieg ein halbes Jahr vorher voranzukündigen, damit Leute flüchten können, dann sei er laut "unseren" Propagandamedien ein ganz übler Diktator und Kriegsverbrecher ? Laut "unseren" Propagandamedien sei Israel eine Demokratie, aber laut Karl Popper und vielen Anderen ist die Grundlage der Demokratie der friedliche Regierungs-Wechsel und friedliche Politik-Wechsel. Also wie friedlich-demokratisch war denn die von Netanjahu tolerierte Ermordung des israelischen Premierministers Jitzhak Rabin 1995 durch einen israelischen Rechtsextremisten und der damit verbundene Politikwechsel ?

Und eine Zweistaatenlösung oder ein weitgehendes Autonomiepaket könnte ein Muster sein, auch mit dem Nahostkonflikt umzugehen, auch, falls das Netanjahu gar nicht gefallen sollte. Aber Netanjahu ist durch den Terror und dadurch, dass er sein Sicherheitsversprechen nicht einhalten konnte, möglicherweise schon so beschädigt, dass er sich langfristig politisch nicht mehr an der Spitze Israels halten kann, so wie das der frühere israelische Premier Olmert in einem Interview ankündigte.

Bei der Netanjahu-Rede vor der UNO-Vollversammlung ging es auch um eine Annäherung von Netanjahu-Israel an China, das wegen seiner diktatorisch-unterdrückerischen Politik gegenüber den muslimischen Uiguren in Sinkiang international umstritten ist. Israel gilt zwar als Demokratie, aber Netanjahu praktiziert seit langem eine Art diktatorischen Umgang mit muslimischen Arabern, der mit demokratischen Standards unvereinbar sein dürfte. Auch diese Annäherung an China und seine diktatorische Unterdrückungspolitik mag ein Faktor gewesen sein in der Auslösung des Hamas-Terrors.

Früherer israelischer Premierminister Olmert: "Netanjahu will be forced to resign". ("Netanjahu wird gezwungen sein, zurückzutreten" )

Olmert vertritt auch die Auffassung, Netanjahu sei mitverantwortlich für den Hamas-Terror, weil er die israelischen Sicherheitskräfte auf der Westbank konzentrierte, um die jüdischen Siedlungen dort zu beschützen, was zur Folge hatte, dass zuwenig Kräfte rund um den Gaza-Streifen vorhanden waren, um dort israelische Zivilisten zu beschützen. Aber allgemein ist auch eine ständige Konfliktsituation, die ständig massive militärische Präsenz erfordert, die Israel kaum selbst finanzieren kann ohne massive Auslandshilfe aus USA und EU, eine wenig nachhaltige "Lösung".

Olmert wirft Netanjahu auch vor, die Hamas groß gemacht zu haben, weil Netanjahu die PLO/Fatah schwächen wollte, und daher hätte Netanjahu erlaubt, dass Katar die Hamas finanziert und groß macht und aufrüstet. In der UNO-Rede vom 23. September 2023 kritisiert Netanjahu nur die PLO/Fatah, aber überhaupt nicht die Hamas.

Olmert nennt die israelischen Regierungspolitiker Smotrich und Ben Gvir bzw. ihre Anhänger "a violent, messianic gang of thugs", also eine gewalttätige, jüdisch-religiös-extremistische Verbrecherbande, und den Regierungschef Netanjahu eine "reckless, irresponsible person", also eine "rücksichtslose, verantwortungslose Person".

Eine Frage, die Olmert nicht aufwirft, ist die, wie die Israelis in der Vergangenheit mehrheitlich eine gewalttätige, religiös-extremistische Gaunerbande (Smotrich-Ben-Gvir) bzw. eine rücksichtslose und verantwortungslose Person (Netanjahu) wählen konnten. Aber das hat wohl Potenzial für den nächsten Blog.

P.S.: der Hashtag-Begriff "Media-Frenzy" ist der angelsächsische Begriff für "Medien-Verrücktheit", für eine Tendenz der Medien, verfälschend, skandalisierend und verrückt zu berichten.

Israel-Karte: das Westjordanland (die "Westbank" ) ist laut internationaler Anerkennung eigentlich ein PLO/Fatah-kontrollierter Palästinenserstaat, was die Netanjahu-Regierung nicht davon abhielt, diesen Palästinenserstaat durch israelischen Siedlungsbau zu annektieren, was naturgemäß auf Widerstand der Palästinenser stiess, der bis hin zum Terrorismus geht.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt in der Netanjahu-Rede, der problematisch ist und die Hamas zum Terror proviziert haben könnte: seine "Israel in 1948"-Karte.

In Wirklichkeit sah der UNO-Teilungsplan für Israel aus den Jahren 1947/1948 so aus:

Blau: Israel; Orange: der Palästinenserstaat

Und auch de facto hatte Israel die längste Zeit nicht die Kontrolle über die Westbank.

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