Soll ein Kanzler wegen Anklageerhebung ohne Verurteilung zurücktreten (müssen) ?

Wieder einmal tut sich ein Konflikt auf zwischen ÖVP und einigen Oppositionellen, aber auch einigen kritischen ÖVP-Stimmen.

Dabei geht es um die Frage, ob Kanzler Kurz zurücktreten sollte, weil die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Anklage gegen ihn erhebt wegen Falschaussage bzw. absichtlicher Falschaussage.

Allerdings ist eine Anklage nicht automatisch eine Verurteilung. Zahlreiche Anklagen durch Staatsanwaltschaften enden nicht mit Verurteilung oder mit nur sehr geringer Verurteilung, viel geringerer Verurteilung, als die Staatsanwaltschaft ursprünglich forderte, wie auch der Fall der Totwürgedomina beweist, die null Monate unbedingt und 15 Monate bedingt für etwas erhielt, was zumindest eine grob fahrlässige Tötung war.

Letztlich sind es die Richter, bzw. die Schöffen und Geschworenengerichte, die über Schuld oder Nichtschuld entscheiden und nicht die Staatsanwaltschaft.

Und da wäre noch was: die Unschuldvermutung. Jeder hat in einem Rechtsstaat als unschuldig zu gelten, bis seine Schuld bewiesen und gerichtlich festgestellt ist. Und man kann argumentieren, dass das auch für Spitzenpolitiker gelten soll.

Allerdings gibt es Unterschiede zwischen Privatpersonen und Spitzenpolitiker: ein Spitzenpolitiker kann sich bei uneindeutiger Sachlage leichter zum Opfer stilisieren und damit punkten, was ein kleiner Privater nicht kann (eher läuft ein Privater dann Gefahr, als paranoid zu gelten). Aber ein Spitzenpolitiker steht auch unter stärkerer Beobachtung der Öffentlichkeit durch Journalisten, Opposition, etc.

Auch die Meinung, der Kanzler müsse zurücktreten, weil die Staatsanwaltschaft die Erfolgschancen auf mindestens 50% schätzen müsse, um Anklage erheben zu können, hat irgendwie was seltsames, weil dann sehr stark Schätzungselemente und Wahrscheinlichkeitsrechnungselemente hineinkommen in eine Thematik, in der ansonsten Schuldbeweise erforderlich sind.

So gesehen ist fraglich, ob die Unschuldsvermutung nur für die Allgemeinheit, also die Normalbürger gilt, und nicht für politische Spitzenpersonen wie den Bundeskanzler.

Die umgekehrte Sicht der Dinge lautet, ein Kanzler müsse über jeden Zweifel erhaben sein, so wie ein Richter das zumindest laut Idealauffassung müsse.

Allerdings entsprechen in manchen Fällen Richter nicht diesem Ideal, und zweitens ist die Richterschaft etwas anderes als ein Parteienwesen.

Was die Substanz der Vorwürfe gegen Kurz betrifft, so kann ich mir darüber keinen genauen Überblick verschaffen, auch deswegen, weil ich nicht Untersuchungsausschussmitglied war.

Allerdings manche Sachen fielen mir schon seltsam auf:

U-Ausschussmitglied Brandstetter (NEOS) fragte Kurz: "Sie haben nie für XX interveniert ?". Bzw. "Haben Sie mit ihm nie darüber gesprochen, dass er das werden könnte?" Und Kurz antwortete: "Nein, es war allgemein bekannt, dass XX interessiert ist."

Und keiner der Untersuchungsausschussmitglieder, keiner der Journalisten und Journalistinnen bemerkt, dass Kurz´Antwort doppeldeutig war, dass sie sowohl als "Nein" auf die Frage "interveniert?", bzw. "Gesprochen?" als auch als "Nein" auf die Frage "Nicht interveniert ?" bzw. "Nicht gesprochen ?" interpretiert werden kann ?

Keiner der Untersuchungsausschussmitglieder fragt nach, keiner der Journalisten, die darüber berichten, erwähnt diese Doppeldeutigkeit, und erst Monate später, als dann die Staatsanwaltschaften sich damit beschäftigen und Juristen dazu befragt werden, wird offenbar, das Kurz´ Antwort zweideutig ist und somit unbrauchbar ?

Da scheint es sich hier möglicherweise auch um gravierende Mängel im Untersuchungsausschuss und in den Medien zu handeln. Es mag sein, dass intelligente Leute ungerne in die Politik gehen, weil sie nicht "Clubzwangsklaven" sein wollen.

Bei der Robert-Lembke-Show "Was bin ich ? Heiteres Beruferaten" fragten die Frager in solchen Situationen immer "Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie nicht ....?", eben um derartige Doppeldeutigkeiten auszuschliessen.

Aber zurück zum Thema: ich respektiere das Beharren der früheren steirischen Landeshauptfrau Klasnic (ÖVP) und heutigen ÖVP-Ethikratsvorsitzenden darauf, dass zum ÖVP-Ethikkodex gehört, bei Anklageerhebung zurückzutreten. Diesen Ethikkodex geschaffen hatte der damalige ÖVP-Vizekanzler und -Parteiobmann Spindelegger, dessen Denken sehr vom Juristischen und Gerichtlichen geprägt war, und der kein Politikwissenschafter war. Eine weitere Frage ist auch, ob dieser Ethikkodex gedacht war nur für den einfachen ÖVP-Abgeordneten oder für Alle inklusive den Spitzenkandidaten, bzw. die Spitzenkandidatin. Der Spitzenkandidat hat meiner Meinung nach einer hervorgehobene Position, weil er/sie den Wahlkampf prägt. Ich habe (auch aus Gründen der Wählertäuschungsvermeidung) schon einmal vorgeschlagen (anläßlich des Kronberger-Mölzer-Falles in der FPÖ bei den EU-Wahlen 2004), den Spitzenkandidaten auszunehmen von der Regelung, durch Vorzugsstimmen zurückgereiht zu werden, eben, weil er/sie eine so dominante und prägende Funktion im Wahlkampf hat. Und ähnlicherweise könnte man bei den Ethikkodices argumentieren: dass sie nicht für den Spitzenkandidaten gelten, eben, weil die Wähler und Wählerinnen sehr wesentlich aufgrund des Spitzenkandidaten entscheiden und auch über seine etwaigen Verfehlungen mitentscheiden, was beim einfachen Abgeordneten nicht der Fall ist.

Aber die Befangenheitserklärung ist scheinbar eine sehr aus der Richterschaft oder dem Richterschaftsideal kommende Überlegung und vielleicht das falsche für ein Parteienssystem.

Ein Rücktrittszwang bereits bei Anklageerhebung und ohne Verurteilung verschiebt die Machtverhältnisse weg von der Wählerschaft und hin zu den Staatsanwaltschaften, die ihrem Wesen nach scharfe Ankläger sein müssen und mit ihren Anklagen oft nicht bei der Richterschaft durchkommen.

So gesehen ist das eine Entdemokratisierung. Und ein Trend hin zum demokratiefreien "Richterstaat", wie das die SPÖ damals nannte, als sie selber noch Kanzlerpartei war. Rene Marcic hat übrigens mal ein Buch geschrieben mit dem Titel "Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat".

Und unabhängig vom momentanen Fall stellt sich die Frage, ob eine allgemeine Pflicht für Politiker, bei Anklage und vor Verurteilung zurückzutreten, nicht eine Korruptionsversuchung für so manchen Staatsanwalt sein könnte und er eine Anklage, die er selbst für unberechtigt und chancenlos hält, einleiten könnte, nur um einen betreffenden Politiker wegzubekommen. So gesehen kann oder muss man Kurz den Vorwurf machen, sich all die Jahre seit Spindelegger nicht um die Fehler oder Fragwürdigkeiten im ÖVP-Ethikkodex gekümmert zu haben, und diese erst jetzt anhand der eigenen Betroffenheit zu thematisieren. So hat er sich selbst geschadet und die Probleme für sich selbst vergrößert. Gute Gesetzgebung oder Kodexgebung hingegen handelt voraussschauend und nicht erst, wenn man selbst mitten drin der Anlaß für die Debatte ist.

Es besteht auch ein großer Unterschied zwischen einem Richter, der sich in einem Fall für befangen erklärt, aber ansonsten im Amt bleibt, und einem Politiker, gegen den Anklage erhoben wird, und der deswegen zurücktreten muss. Nach dem Motto "Es bleibt immer was hängen" und dem "They never come back"-Prinzip erscheint es schwer möglich, dass ein Politiker wegen Anklage von einem Amt zurücktritt und nach der Freisprechung dieses zurückbekommt, auch deswegen, weil dann wahrscheinlich Wahllisten völlig anders und ohne ihn/sie besetzt wurden. Und ein halbes Setzen auf die Liste ist wohl schwer möglich, nach dem Grundsatz "Nehme Mandat bei Verurteilung an, bei Freispruch nicht". Generell sind schwebende Verfahren eine Belastung im Wahlkampf. Ein Politiker, gegen den ermittelt wird, hat im Wahlkampf schlechtere Chancen, auch wenn er unschuldig ist und später freigesprochen wird.

Und es stellt sich auch die Frage, ob eine einseitige und leicht manipulative Antwort in einem Untersuchungssauschuss als gerechtfertigte Reaktion auf eine einseitige Frage eines Abgeordneten einer "feindlichen" Partei gesehen werden kann.

Durch unser System der Mehrheitsregierungen (wer 51% hat, bekommt alle Regierungssitze, wer 49% hat, bekommt keinen Regierungssitz) werden derartige Konflikte verstärkt, während sie durch das

Proporzregierungssystem/Allparteienregierungssystem, wie es das in einigen Bundesländern gibt, entschärft würden.

Wenn man sowieso proportional zum Wählerzuspruch an der Regierung beteiligt ist, dann entfällt bzw. verringert sich auch der Druck, manipulativ und verdrehend zu sein, um die 2% zur Mehrheit zu halten oder zu erobern.

Und dabei spielt auch eine Frage der Geschichte hinein: die ÖVP ist nun schon 35 Jahre lang ununterbrochen in der Regierung. Und scheinbar hat sie das Verständnis dafür verloren, wie man als Opposition denkt, und was sinnvolle Oppositionsaufgaben sind.

Und ebenso gibt es Einseitigkeit bei hauptberuflichen Oppositionellen wie zum Beispiel Peter Pilz einer war, der kein Verständnis für Regierungsnotwendigkeiten und Staatsräson hatte, bzw. zu haben schien.

In seinen Interviews sagte Sebastian Kurz: "Man will mich wegbekommen", wobei er offenliess, wen er mit "man" meinte.

Schon in der Vergangenheit hatte Kurz heftige Kritik an der Justiz, insbesondere der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft geübt, die man auch so verstehen konnte, dass er ein problematisches Verhältnis zum Rechtsstaat habe.

Auch die Auslagerung der Corona-Hilfen an die Wirtschaftskammer hinterliess eine Transparenz-Lücke, die dem türkis-grünen Regierungsprogramm und seinen Transparenzgelübden widersprach.

Man kann auch vermuten, dass diese Auslagerung der Corona-Hilfen-Vergabe trotz Staatsfinanzierung dazu diente, etwaige Korruptionsfälle und Bezüge von Corona-Hilfen ohne Rechtsanspruch, z.B. trotz Wucherhandel in der Lockdown-Phase, zu verschleiern.

Und es stellt sich die Frage, ob die ÖVP nicht durch Tricks wie Kurz´ Welpeneffekt, als Junger für ÖVP-Fehler der Vergangenheit nicht verantwortlich zu sein, übermäßig groß ist, und dem internationalen Trend zum Schrumpfen der Großparteien bei Verhältniswahlrecht eben nur wegen dieser Tricks widerstehen konnte.

Generell ist diese Fixierung auf die Person Kurz eher ein Demokratiemangel, der zahlreiche Sachfragen in den Hintergrund drängt.

Und dieses "Bist Du für Kurz oder dagegen ?", das die zentrale Frage im Land zu sein scheint, läuft auch Gefahr, erneut zu spalten und Lagerkonflikte zu schaffen, die Selbstläufer werden könnten und sachorientierte Lösungen in vielen Fragen verunmöglichen könnten, und weitergehend sogar auch Debatten zu Sachthemen, weil dann zuviel Zeit, Sendeplatz und Zeitungszeilen nur für die Kurz-Frage verwendet werden und für andere Themen nicht mehr zur Verfügung stehen.

Was passiert, wenn Kurz zurücktreten würde bzw. zurücktreten müssen würde nach starkem Oppositionsfeuer und Medienfeuer und wegen Ethikkodex, wenn er dann aber vom Gericht freigesprochen würde ? Wahlwiederholung ein paar Jahre lang wie bei der Bundespräsidentenwahl ?

Da sehe ich erhebliche Probleme.

https://www.deutschlandfunk.de/welches-schweinderl-haetten-sie-denn-gern.871.de.html?dram:article_id=261788

Hier Showmaster Robert Lembke (mitte) mit seinem Rateteam Guido Baumann, Annette von Aretin, Hans Sachs, und Marianne Koch bei der Show "Was bin ich ?"

Zigtausende Male stellten diese Frager und Fragerinnen die Frage "Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie nicht ....?".

Eine Fragetechnik, um Doppeldeutigkeiten auszuschliessen, die im österreichischen Parlament vielleicht wegen Dummheit völlig unbekannt zu sein scheint.

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