Wahrheitspflicht für Regierung, Lügenrecht für Opposition ?

Der Vorschlag, bei Gremien, die die Regierungstätigkeit kontrollieren, Wahrheitspflicht einzuführen, hat ein paar Haken und Schwächen:

erstens einmal werden dabei nur die (jetzigen oder ehemaligen) Regierungsparteien zur Wahrheit gezwungen und gegebenenfalls bestraft, die Oppositionsparteien (insbesondere die ständigen Oppositionsparteien) aber nicht.

Da extremistische Parteien kaum Chancen haben, in die Regierung zu kommen, könnten sie wählerwanderungstechnisch von dieser nur für die Regierung geltenden Wahrheitspflicht profitieren, und weiter Lügen verbreiten.

Außerdem gilt diese Wahrheitspflicht nur für die Regierungstätigkeit im engeren Sinne, also das, was die Kontrollgremien zu kontrollieren haben.

Und drittens ist der Vorschlag auch eine Entdemokratisierung: den Wählern und Wählerinnen wird das Recht, darüber zu entscheiden, was wahr ist und was falsch, bzw. was sie so betrachten, entzogen, und es wird anderen Instanzen unterstellt, beispielsweise der Richterschaft. Früher warnte die SPÖ ja immer vor dem "Richterstaat" und der Entdemokratisierung, die sie nun vorantreibt, vielleicht deswegen, weil sie in Anbetracht ihres riesigen Umfrage-Rückstands auf die ÖVP die Chancen, auf normalem Wege selbst Regierungspartei zu werden, gering einschätzt.

Wieso wird keine Wahrheitspflicht für alle Politiker eingeführt, also auch für Oppositionspolitiker ? Wieso dürfen Oppositionsparteien im Wahlkampf lügen, aber für Regierungstätigkeit und ihre Kontrolle eine Wahrheitspflicht durchgesetzt, was naturgemäß nur die Regierungsparteien (also derzeit ÖVP und Grüne) trifft ?

Wieso wird keine Wahrheitspflicht eingeführt oder auch nur diskutiert, die über die Regierungstätigkeit hinausgeht ? (Vielleicht wegen einem Totalversagen der politisch-medialen Klasse)

Alles in Allem erscheint das derzeit noch kein ausgegorener Vorschlag zu sein, sondern ein Versuch, die Sobotka-Skandalisierung, die insbesondere der SPÖ-Dobermann Leichtfried vorantreibt, aufrechtzuerhalten.

Das Thema "Wahrheit und Lüge in der Politik oder auch im Alltag einfacher Bürger" ist ein viel zu vielschichtiges, als dass man es mit einer Sobotka-Skandalisierung belassen könnte oder sollte.

Und Leichtfried scheint für Rendi-Wagner immer mehr zu werden, was Stadler für Haider war: der Dobermann, also Rabiat-Rhetoriker.

Ob diese Rabiatisierung und Verstadlerung der SPÖ demokratischpolitisch gut ist, ist eine schwierige Frage.

Verständlich ist der Zorn der SPÖ zwar, weil nun schon seit 38 Jahren das besteht, was so mancher SPÖ-ler als "strukturelle rechte Mehrheit" bezeichnet, eine ÖVP-FPÖ-Mehrheit.

Aber Zorn alleine und rabiate Rhetorik ist vielleicht nicht der richtige Weg, dies zu ändern.

Die ganze Sache erinnert irgendwie an Schober-Gusenbauers "Napalm" aus dem 2006-Wahlkampf: die SPÖ hatte damals im Wahlkampf gegen die ÖVP eine "Lügen"-Vorwurfs-Kampagne durchgezogen, mit dem Resultat, dass die ÖVP einige Stimmenanteile verlor, aber die SPÖ einige Stimmenanteile gewann, aber zuwenig, um ohne ÖVP regieren zu können, wodurch erst recht wieder eine SPÖ-ÖVP-Regierung nötig wurde, die dann natürlich nicht funktionierte, weil der Wahlkampf das Klima zwischen den beiden Parteien zerstört hatte.

Gusenbauer wurde deswegen übrigens der Kanzler mit der kürzesten Amtszeit (zumindest in der zweiten Republik, vielleicht überhaupt).

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