Es ist eine der widerlichsten, populistischsten Lügen, die in diesem Land gerade wieder um sich greift: Die Behauptung, Millionen Menschen im Bürgergeld wollten einfach nicht arbeiten. Dass es nur an Faulheit, an „sozialer Hängematte“, an verweigerter Eigenverantwortung liege, wenn jemand keine Arbeit hat. Die CDU bläst zum Angriff, getrieben von einem moralisch mageren Klassenbewusstsein und einem politischen Interesse: Abzulenken. Vom eigenen Versagen. Von den echten Problemen. Von den wahren Ursachen.
Fangen wir an mit den Zahlen, die sie dir bewusst nicht erzählen.
In Deutschland sind derzeit rund 2,92 bis 2,97 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Diese Zahl umfasst Menschen, die arbeiten wollen, die gesundheitlich dazu in der Lage sind, die sich regelmäßig bewerben und als verfügbar gelten. Soweit, so bekannt.
Parallel dazu gibt es etwa 5,5 Millionen Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger. Davon sind laut Bundesagentur für Arbeit ungefähr 3,94 Millionen erwerbsfähig. Aber nur rund 1,9 bis 2,2 Millionen von ihnen gelten im engeren Sinn als arbeitslos. Warum? Weil viele in Schulungen, Sprachkursen, Weiterbildungen sind. Weil sie kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen, gesundheitlich eingeschränkt sind oder schlichtweg so wenig verdienen, dass sie aufstocken müssen. Sie arbeiten – aber der Lohn reicht nicht.
Dann kommen die Menschen hinzu, die vor Krieg, Gewalt und Armut geflüchtet sind. Aus der Ukraine sind es derzeit etwa 1,22 Millionen registrierte Schutzsuchende. Über 500.000 von ihnen beziehen Bürgergeld. Die Erwerbsquote liegt bei rund 35 Prozent. Das heißt: Etwa 330.000 ukrainische Geflüchtete leben derzeit vom Bürgergeld, ohne einer Arbeit nachzugehen – nicht weil sie nicht wollen, sondern weil sie es rechtlich, sprachlich oder strukturell nicht können. Wer keinen B1-Sprachkurs absolviert hat, kann in kaum einem Betrieb mit Kundenzugang arbeiten. Wer keinen anerkannten Abschluss hat, darf in vielen Berufen nicht eingesetzt werden. Wer kein Führungszeugnis, keine Aufenthaltsbestätigung, kein Gesundheitszeugnis, keinen Wohnsitznachweis, keinen Kita-Platz oder keine Sprachkurszusage hat, kann schlichtweg nicht starten. Die Hürden sind nicht faul, sie sind systemisch.
Kumuliert heißt das: In Deutschland leben derzeit zwischen 4,5 und 5 Millionen Menschen, die im weiteren Sinne als arbeitsuchend gelten. Das sind arbeitslose Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger, Arbeitslose mit ALG I, Geflüchtete mit Arbeitswillen, aber ohne Zugangsberechtigung oder Qualifikation. Menschen, die bereit wären, loszulegen, wenn das System sie lassen würde. Wenn man sie anerkennen, qualifizieren, begleiten und menschlich behandeln würde.
Dagegen stehen etwa 628.000 gemeldete offene Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit. Wenn man großzügig alle nicht gemeldeten Jobs dazurechnet, kommt man auf knapp eine Million offene Stellen im gesamten Bundesgebiet. Doch auch diese Zahl täuscht. Denn der Großteil dieser Stellen richtet sich an Fachkräfte: IT, Ingenieurwesen, Gesundheitsberufe, Bauleitung, Handwerk mit Gesellen- oder Meisterbrief. Berufe, die nicht einfach so mit einem Sprachkurs und guter Laune erreichbar sind. Sie erfordern lange Ausbildungswege, Fachvokabular, Anerkennung von Zeugnissen, Berufserfahrung. Eine 35-jährige Mutter aus Donezk wird nicht durch Wunschkraft zur Fachinformatikerin. Auch nicht in sechs Monaten.
Die CDU will nun das Bürgergeld verschärfen. Härtere Sanktionen. Kein Geld mehr für sogenannte „Totalverweigerer“. Friedrich Merz fordert Sanktionen bis zur Nulllinie. Als sei das die Lösung für ein strukturelles Problem. Die angebliche Zielgruppe? Rund 16.000 bis 18.000 Menschen, die nachweislich Arbeitsangebote wiederholt ohne triftigen Grund abgelehnt haben. Diese Menschen gibt es. Ja. Aber sie machen 0,3 Prozent der Bürgergeldempfänger aus. Und niemand kann ernsthaft glauben, dass genau diese 0,3 Prozent die Rettung für die deutsche Wirtschaft wären, wenn man sie nur ordentlich sanktioniert.
Denn auch diese 18.000 sind meist keine Ärzte, keine Softwareentwickler, keine Bauleiter. Sie haben keine Zertifikate, keine Sprachkenntnisse auf C1-Niveau, keine Anschlussfähigkeit für die Berufe, in denen tatsächlich Mangel herrscht. Selbst wenn man sie alle morgen zwangsverpflichten würde, würde das den Fachkräftemangel nicht lindern – weil sie schlichtweg nicht die Anforderungen erfüllen.
Was bleibt, ist eine Rechnung, die keiner aufmacht, weil sie unbequem ist: Selbst wenn alle Bürgergeldbezieher arbeitsfähig wären, selbst wenn alle Geflüchteten sofort arbeiten dürften, selbst wenn alle Bürokratie verschwände, bliebe das Verhältnis von 5 Millionen Jobsuchenden zu 1 Million verfügbarer Stellen. Vier Millionen Menschen ohne Chance. Ohne Platz. Ohne Perspektive.
Und was macht die CDU? Sie dreht den Spieß um. Sie behauptet, das Problem sei nicht das System, sondern der Mensch. Nicht die Struktur, sondern die Faulheit. Nicht die Bürokratie, sondern die Hängematte. Und genau das ist der wahre Skandal.
Die Politik verarscht uns. Sie gaukelt uns vor, man könne mit ein bisschen mehr Disziplin und ein paar Sanktionen den Arbeitsmarkt retten. In Wahrheit schützt sie die Wirtschaftsinteressen derer, die sich passende Fachkräfte wünschen – aber nichts dafür tun wollen, sie zu qualifizieren oder einzustellen. Sie schützt ein System, das lieber sanktioniert als ausbildet. Das lieber stigmatisiert als integriert. Und sie lebt davon, dass Menschen diese Lügen glauben.
Wer heute also Bürgergeldempfänger pauschal als faul beschimpft, tritt nicht nach oben. Er tritt nach unten. Auf Menschen, die ohnehin schon kämpfen. Und wer Politikerinnen und Politiker wählt, die genau dieses Menschenbild propagieren, macht sich mitschuldig an einer Lüge, die unsere Gesellschaft vergiftet.
Es ist Zeit, diese Lüge zu beenden. Mit Fakten. Mit Menschlichkeit. Mit Haltung.
Und mit dem Mut, nach oben zu fragen:
Warum funktioniert ein System so schlecht, dass Millionen Menschen arbeiten wollen – aber nicht dürfen?
Und warum akzeptieren wir, dass daraus eine moralische Schuld gemacht wird?
Diese Fragen müssen gestellt werden. Laut. Hart. Und immer wieder. Bis auch der Letzte versteht:
Nicht die Armen sind das Problem. Sondern die, die ihre Armut zum Geschäftsmodell gemacht haben.
Heinz Skorwider