„Bevor ich sterbe, will ich...“ so steht es an der Ziegelmauer. „Bald wird sie abgerissen, doch bis dahin sollen viele den Satz vollenden“, erklärt Danilo Hommel, der uns auf dem Kneipen- und Kultur-Nightwalk durch die Dresdner Neustadt führt. Von uns fühlt sich keine(r) bemüßigt, einen Wunsch zu formulieren. Andere haben die Aufforderung hingegen angenommen: „… dass die CSU stirbt“ oder „… dass ich in Ecuador auf dem Vulkan Cotopaxi stehe“, steht hier in der Böhmischen Straße zum Beispiel – ja, Lebenspläne sind verschieden. Und manche passieren.

Davon kann der ehemalige Lehrer Danilo ein Lied singen. Dass er neben seiner Tätigkeit als Stadtführer eine Galerie leiten würde, hätte er sich vor ein paar Jahren noch nicht erträumen lassen. Jetzt gehört seine Ukradenà (Gestohlene) Galerie, die wir als Nächstes besuchen, zur Neustadt wie die bunten Höfe der Kunsthofpassage. „Ich habe sie in Cesky Krumlov entdeckt“, so Danilo, der seit 1987 in der Stadt lebt, „als sich kein Kurator in Dresden fand, habe ich die Idee selbst verwirklicht.“ Seit mehr als drei Jahren existiert das Straßenkunst-Projekt in der sächsischen Landeshauptstadt – genauso wie unter anderem in Linz und Prag. Jeden Sonntag hängen Künstler Werke an die Mauer nahe dem Raskolnikoff, einem der ältesten von über 150 Lokalen des Viertels.

Straßenkunst wie die Gestohlene Galerie passen zur Dresdner Neustadt und seinen 16.000 Einwohnern – Durchschnittalter 31. Anfang der 90er Jahre wurde hier aus Protest gegen die schlechte Wohnraumsituation und Abrisspläne eine Mikrorepublik samt Währung gegründet. „Den Pass kann man noch heute für zwei Euro kaufen“, erklärt Danilo, der selbst Teil der Szene war. Abgesehen von einem alljährlichen Straßenfest gleichen Namens ist jedoch kaum etwas von der „Bunten Republik Neustadt“ geblieben. Mittlerweile finden sich im Viertel hübsch sanierte Gebäude aus der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts zwischen maroden Häusern; bobo-esque Läden tischen vegane Bio-Kost auf, während in urwüchsigen Kneipen Bier gezapft wird; studentische Neo-Hippies löffeln auf Parkbänken ihr Mittagessen aus Papptellern und Jung-Mamis schieben farbenfrohe Kinderwägen durch die Straßen. Kurz: Ein Bild des kreativen Andersseins, das in der Dresdner Neustadt an jeder (Straßen)Ecke gezeichnet wird.

Ein Bild, das das Dresdner Tourismus-Marketing-Bürogern nachgemalt und in die Welt hinausgetragen hätte: 2014/2015 sollten Jahre werden, in denen sich die Stadt den jährlich über 7 Millionen Touristen von ihrer vielfältigsten Seite zeigen wollte. In denen sie unter Beweis stellen wollte, dass sie längst mehr zu bieten hat als Richard Wagner, Semperoper und Frauenkirche. Dass sie sich hinter der Buntheit der großen Schwester Berlin nicht mehr zu verstecken bräuchte und es mit der eingefleischten Erzkonkurrentin Leipzig locker aufnehmen könnte.

Und dann kam Pegida. Seither ist Dresden tatsächlich nicht mehr für seine Vergangenheit bekannt, sondern für die Gegenwart - leider. Das Tal der Ahnungslosen, ein Hort der Fremdenfeindlichkeit, stolze Brutstätte der Islamfeindlichkeit - ein solches Image verschafft der Stadt keinen Platz mehr auf der Reise-Bucket-List. Tatsächlich regnet es "täglich Anfragen und Absagen von Besuchern", wird Matthias Hundt, Leiter der Tourist-Info in Dresden zitiert. Nicht von Urlaubern aus dem fernen Ausland, vielmehr Gäste aus der eigenen Heimat Deutschland zeigen ihren (stummen) Protest und lassen ihr Geld lieber anderswo, heißt es.

Warum trifft es ausgerechnet Dresden? Warum gelingt es dort, anders als in anderen, aber mindestens ebenso bürgerlichen deutschen Städten wie München nicht, sich gegen die islamfeindlichen Hetz-Patrolen erfolgreich zur Wehr zu setzen? Das ist nicht nur für den Teil der Bevölkerung Dresdens unverständlich, die im Gegenprotest versuchen, ihre Straßen (und ihre Stadt) zurückzuerobern.

Denn auch wenn das Dresdner Stadtmarketing mit dem Image von der vielseitigen Weltmetropole bloß mehr Touristen anlocken wollte, ihr Bild von den unterschiedlichsten Seiten der Stadt ähnelt weniger einem abstraktem Gemälde als realistischer Fotografie. Dort, wo Pegida den Islam als Erzfeind anprangert und aus der seligen Heimat vertreiben möchte, blickt ausgerechnet eines der Wahrzeichen Dresdens mit unfreiwilligem Hohn auf diese Engstirnigkeit herab: Ein als Schornstein getarntes Minarett nämlich, erbaut zwischen 1908 und 1909, steht 62 Meter hoch über die Dächer von Dresden Friedrichstadt hinaus und prägt seit Jahrhunderten das Stadtbild. In Zeiten wie diesen könnte man seine überragende, anhaltende Größe als provozierend und konfrontierend empfinden. Zum Nachdenken regt es aber in jedem Fall an.

Reaktionen wie diese möchte auch die Straßenkunst, die in Dresden überall zu finden ist, aus dem Betrachter herauskitzeln. Seit 2013 führt Danilo Hommel Touristen und Interessierte auf seiner Street Art Tour durch die Stadt. Start: Ausgerechnet in der Altstadt südlich der Elbe! Dort, wo die Wirkstätten von Richard Wagners jährlich 8,8 Millionen Touristen genauso anlocken wie die original-getreuen Rekonstruktionen der Pracht-Bauten von Semperoper, Frauenkirche oder Zwinger, die größtenteils 1945 zerstört wurden. Die Dresdner kommen selten an dieses andere Elbufer, das wegen seiner Nachbauten auch liebevoll „Disneyland“ genannt wird. Doch hier geht die Tour los: Beim Fürstenzug. 102 Meter lang und aus rund 23.000 Fliesen der nahen Meißner Porzellanmanufaktur geschaffen, gilt das Bild als größtes Porzellankunstwerk der Welt. 35 Markgrafen, Herzöge, Kurfürsten und Könige aus dem Geschlecht des Fürstenhauses Wettin schauen seit 1907 in der Augustusstraße auf die Vorbeigehenden hinab.

Von der historischen Innenstadt führt Danilo weiter ins benachbarte Dresden-Friedrichstadt. Eine Handvoll Restaurants, der älteste katholische Friedhof, ein Kulturverein - touristisch hat das Viertel wenig zu bieten. Wären da nicht über 16 Murals, farbenfrohe, phantasievolle Graffiti-Werke auf Hauswänden sowie Brandschutzmauern. 2012 lud der lokale Street Art Künstler Jens Besser internationale Kollegen ein, sich in Dresden zu verewigen und dadurch nicht nur Gebäude zu verschönern, sondern legal vor Vandalismus zu schützen. Die Einladung Bessers ließen sich Größen der Sub-Kultur wie Aris oder Kenor nicht zweimal übermitteln: Auf 25000 Quadratmeter brachten sie Szenen an die Wände, die die Dresdner Historie besser erzählen als so manches Geschichtsbuch. Da erinnern die Hamburger Zonenkinder an die Jahrhundertflut 2002, als die Elbe samt Nebengewässer die Stadt überschwemmten, und der US-Amerikaner Ryan Spring Dooley schildert bildhaft das Wanken des Dresdners zwischen Kultur sowie technologischem Fortschritt.

Letzterer wird nicht nur durch die Technische Universität Dresden immer wieder unter Beweis gestellt, auch sonst ist die elftgrößte Stadt der Bundesrepublik bekannt für Innovationen. Ob Zahnpasta oder Milchschokolade: „Alles wurde in Dresden erfunden“, erklärt ein Zugezogener mit sarkastischem Unterton, hinter dem ein Funke Wahrheit steckt. So führte die erste Ferneisenbahnverbindung Deutschlands von Dresden nach Leipzig, und auch die erste deutsche Gartenstadt wurde 1909 nach englischem Vorbild 6,5 Kilometer nördlich der sächsischen Landeshauptstadt erbaut.

„Wenn es zutreffen sollte, dass ich nicht nur weiß, was schlimm und hässlich, sondern auch, was schön ist, so verdanke ich diese Gabe dem Glück in Dresden aufgewachsen zu sein“, schrieb einst eines der berühmtesten Kinder der Stadt, Erich Kästner. Ein Jahrhundert später formuliert es die Dresdner Band ANSA in ihrer Heimat-Hymne so: „Leck mich, Hawaii, auf Wiedersehen. Du wirst mich ab jetzt nur von hinten sehen. Bei mir zuhause ist´s wunderschön. Ich will die ganze Nacht durch Dresden durch die Neustadt ziehen.“ Vermutlich wäre das die Antwort der Jungs auf den Satz in der Böhmischen Straße. Eine Antwort, die wohl auch Pegida und Co. nicht verändern können – zumindest nicht so schnell: Bevor ich sterbe, will ich …

2
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:57

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:57

Noch keine Kommentare

Mehr von Doris Neubauer