„Kinder, wir müssen reden!“ Nicht, dass in meiner Familie solche Aufforderungen an der Tagesordnung gestanden wären, aber spätestens aus Film und Fernsehen weiß auch ich, dass damit meist nichts Gutes verbunden ist. Schon gar nicht, wenn der Sprecher das Anhängsel „wir haben ein Problem“ beschämt verschluckt, so wie es Jessie gerade macht. „Wir müssen zwei weitere Nächte hier auf der Insel verbringen“, klärt uns dieses drahtige 21-jährige philippinische Springinkerl weiters auf, das sich gestern als unser Tourguide für die nächsten fünf Tage vorgestellt hat, „seit dem schweren Taifun Haiyan vor einigen Jahren ist die Küstenwache besonders streng und hat allen Schiffen ein Ablegeverbot erteilt.“ Was?! Gut, gestern wurde uns bereits angekündigt, dass wir einem Taifun – Nona mit Namen – davon fahren müssen, und heute sind wir auch extra früh – um 6.00 Uhr nämlich – von unserem Matratzenlager aufgestanden, um genau das zu tun. Und jetzt das? Ich schlucke die Nachricht, doch ihr Ausmaß kann ich erst Stunden später erfassen. Dann nämlich, als ich in einer der Schaukel hängend, mein Buch im Schoß, auf das ich mich nicht und nicht konzentrieren kann, das erste Mal auf die Uhr schaue und feststelle: Es ist noch nicht einmal 9.00 Uhr morgens. Es werden zwei lange Tage!

Doris Neubauer

Keine 24 Stunden zuvor sind wir aus El Nido aufgebrochen, um dem wurligen Touristen-Nepp dieses so uncharmanten Städtchens zu entkommen und mit dem Anbieter TAO Philippines die abgelegenen Inseln zwischen dem nördlichen Zipfel Palawans und Coron anzuschippern. Weit sind wir nicht gekommen, doch die Zwischenstopps mit Schnorcheln, versteckten Lagunen, glasklarem Wasser haben die großen Versprechungen auf Mehr erst recht glaubhaft gemacht. Wenn schon hier – so nahe an El Nido, wo tagein, tagaus tausende (ohne Übertreibung) Backpacker, asiatische Touris und Honeymooners auf Tagestouren mit dem Boot hinausfahren, um Inselhopping zu betreiben – solche Schönheit verborgen ist, wie muss es dann erst weiter draußen sein?! Dort, wo nur vereinzelt Inseln bewohnt sind, wo nur TAO Philippines seit Jahren seine kleineren Gruppen hin mitnimmt. Es ist keine Frage, sondern eine Selbstverständlichkeit, dass die Bilder auf Facebook, der Website und auf zahlreichen Blogs nicht zuviel versprechen können. Außerdem ist ja Jimmy mit an Bord – und der war schon vor acht Jahren auf einem dieser Schiffe, als die zwei Gründer von TAO Philippines noch in den Bars ihre Mitreisenden „rekrutiert“ haben. Die Tour war einer der Gründe, warum der Nordire gemeinsam mit seiner englischen Verlobten erneut die Philippinen als Reiseziel gewählt hat. Ja, die Erwartungen liegen hoch …

Doris Neubauer

Doris Neubauer

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Nicht allerdings an dieses TAO Basecamp auf Cadlao, der mit 10 km² größten Insel in El Nido. Hier ist nicht viel zu tun. Normalerweise sind die Handvoll Bambushütten auch nur dafür gedacht, am ersten Tag zwar bereits auf dem Weg, aber doch noch nahe bei der Stadt zu übernachten und nach einer Nacht wieder weiterzuziehen. Zumindest dann, wenn kein Taifun oder andere Wetterbedingungen die professionelle Planung über den Haufen werfen – wie jetzt. „Wie oft bist du schon festgesessen?“, frage ich Jessie irgendwann in den nächsten 48 Stunden unseres ungeplanten Insellebens. Bisher war sie in ihrer zweijährigen Tätigkeit nur einmal in der Situation, Chef Jeff hingegen ist schon richtiger Experte: Dreimal wurde für ihn dieses erste Basislager zur fixen Station. Unfreiwillig, versteht sich, stranden doch im Jahr nur vier oder fünf TAO-Boote in einem der Lager. Ich hätte wirklich keine Nummer in dieser uStatistik werden müssen. Man hat mich nicht gefragt.

Doris Neubauer

Doris Neubauer

Doris Neubauer

Volleyballspielen, ein bisschen Schwimmen, Karten- und Würfelspiele, lesen, Nichtstun, essen, trinken – bei diesem dichten 48-Stunden-Programm wird der Hike zum nächstgelegenen Dorf zum Highlight von Tag eins. Gerade eine Stunde dauert der kleine Spaziergang über den Strand und hinein durch den Wald zu den Hütten, die aus Holz, Metall und sonstigen Recycling-Materialien zusammengeklopft wurden. Der Eindruck, dass es sich hier um ein traditionelles oder gar von Zivilisation abgeschiedenes Dorf handelt, kann allerdings nicht lang aufrecht erhalten werden: Nicht nur wegen der Tatsache, dass die Kinder in El Nido in die Schule gehen und dafür bloß täglich zweimal dreißig Minuten Bootsweg in Kauf nehmen. „Hier könnt ihr ein paar Snacks einkaufen“, ertönt Jessies Stimme vor uns und gibt den Blick auf eine der Hütten frei. Ein Shop, an dessen kleinem Verkaufsfenster sich auch gleich einige unserer Mitreisenden die Nasen plattdrücken. Kaugummi, getrocknete Brotsnacks, die geschmacklich an Zwieback erinnern, Oreo-Kekse - die Proviant-Auswahl ist zwar nicht groß, aber doch lässt sich die Freude nicht verbergen, nach 24 Stunden „Entzug“ wieder etwas einzukaufen. Notwendig wäre es nicht, denn verhungern muss auf dieser alles Andere als einsamen Insel, auf der übrigens auch die Teilnehmer der skandinavische TV-Show „Robinson Expedisjonen“ den Kampf um ihr Überleben in Szene gesetzt haben, wirklich keiner. „Wer kommt mit, das Schwein zu schlachten?“, lädt uns die Crew rund um Jessie am nächsten Tag ein, „das sollte sich wirklich keiner entgehen lassen!“ Ihre Werbung trifft ins Leere, handelt es sich doch dabei ausgerechnet um das süße Ferkel, das noch am Vortag bei unserem Dorfspaziergang auf den Namen Otto getauft und Star zahlreicher Fotos geworden ist. Nur einer ist tapfer genug, um zu beobachten, wie Chef Jeff auf philippinische Art und Weise dem Schwein in den Hals sticht und es ausbluten lässt. So entsetzt die „Aah“ und „Ooh“ Schreie sind, als die Jagdtruppe das Vieh auf dem Spieß zurück ins Lager trägt, wird später beim Dinner doch wieder vom köstlichen Speck geschwärmt und die ersten Fettstücke aufgegessen.

Vielleicht liegt es an diesem Ratzeputzen-Verspeisen, dass am Morgen des 4. Tags doch tatsächlich das Wetter etwas besser aussieht und die erlösende Botschaft kommt: „Packt eure Sachen! Wir können die Insel verlassen!" Die Erleichterung darüber sollte nicht lange anhalten. Schon unsere Rucksäcke und die Küchengeräte wieder zurück aufs Schiff zu befördern, wird angesichts des heftigen Wellengangs zu einem Sysyphus-Job. Immer wieder müssen die philippinischen Jungs zurück, die Kanus neu beladen oder nach verlorenen Gegenständen tauchen. Wie viele Mangos, Eier, Kochlöffel und Bettlaken auf dem Grund des Meeres gelandet sind, lässt sich wohl schwer sagen. Und für weniger geübte Schwimmer wie mich wird auch der kurze Weg zurück an Bord zur buchstäblich atemberaubenden Herausforderung. Kaum geschafft und gedopt mit Anti-Seekrankheits-Tabletten, verstauen wir unsere Habseligkeiten, krallen wir uns oben an die Bänke des Schiffs, ziehen unsere Regenjacken an, die Kapuzen über die Köpfe - wir sind startklar. Doch unser Optimismus sollte nicht lang andauern: Die Wellen sind einfach zu stark, kommen Meterhoch auf uns zu, und das vollgestopfte, schwere Boot bewegt sich kaum von der Stelle. Kurze Zeit später muss das auch die Crew einsehen: „Wir kommen nicht gegen die Wellen an, wir müssen zurück nach El Nido“, nehmen wir - komplett durchweicht vom starken Seegang, zitternd vor Kälte, mit blassen Gesichtern und schreckensgeweiteten Augen – fast schon dankbar die Hiobsbotschaft von Jessie entgegen. Dass wir trotz allem richtig Glück hatten, wird uns erst eine halbe Stunde später klar. Dann nämlich, als wir an Land im TAO Office auf Gestrandete der anderen Boote treffen und die ersten Nachrichten lesen: Der Taifun Nona hat in den letzten Tagen auf den Philippinen Häuser abgetragen, Straßen aufgerissen, Dörfer zerstört und 13 Menschen das Leben gekostet.

Im Vergleich dazu ist das Stranden auf einer sicheren Insel wie Cadlao (und ein bisschen verlorenes Geld, ein verpasster Flug und eine Hotelbuchung) einfach nur eine gute Reiseanekdote!

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