mangelnde Abstimmungskultur, manipulierte Sprache und Statistik, Geschichtsunwissenheit

Ein Wort, von dem es die europäische Linke fertiggebracht hat, es der Rechten anzuhängen – selbstredend mit abwertender Konnotation – ist »Populismus« (und seine Ableitungen). Persönlich lautet meine Definition: Populismus ist die Popularität seiner politischen Gegner.

Professor Jérôme Jamin auf TV5MONDE

Foto: Enrico Bergmann

Mit unverhohlenem Hohn zeigen EU-ropäer gleicher oder anderer politischer Couleur auf Briten und Österreicher, die Abstimmungen wiederholen möchten oder müssen. Dabei hätten die Verspotteten eine einfache Antwort vorzubringen: Wir werden wenigstens gefragt! Verglichen mit dem Neuaufbau ganzer Länder – nach Kriegsereignissen in der Folge einer verfehlten Politik – ist das nochmalige Ausfüllen und Einreichen eines Stimmzettels zumutbar und billiger.

Es trifft sich gut, dass »TV5 Monde«, ein internationaler französischsprachiger Fernsehsender, am Sonntagabend dem 3. Juli 2016 die Sendung »BAR de l’Europe« brachte. Diesmal interviewte der Moderator Paul Germain den Lütticher Professor Jérôme Jamin, Politologe, Philosoph, Spezialist der Populismen in Europa und den Vereinigten Staaten. Hier – gefolgt von einigen meiner persönlichen Anmerkungen – eine (nicht wörtliche) Zusammenfassung dessen, was Professor Jamin (in französischer Sprache) zum Brexit, dem in seinem Zusammenhang verwendeten Vokabular und zu seinen Mängeln und Auswirkungen sagte:

Brexit

Der belgische Professor machte keinen Hehl daraus, dass ihm ein Verbleib der Briten bei der EU lieber gewesen wäre. Dafür brachte er es während des Interviews fertig, in kürzester Zeit und unaufgeregt ein paar wichtige Aspekte aufzuzeigen, die ich bisher noch nirgendwo gehört oder gelesen hatte.

Populismus

(In Europa) wird das Wort »Populismus« mit einer Beleidigung in Verbindung gebracht. Den Brexit mit Populismus gleichzustellen läuft darauf hinaus, die Sache selbst, die Briten und die Vorgehensweise zu diskreditieren.

Die Eigenheit des Populismus besteht darin, das Volk als arbeitsam und aufrichtig einer korrumpierten und arbeitsscheuen Elite gegenüberzustellen. Populismus existiert bei der Rechten wie der Linken, bei der extremen Rechten wie bei der extremen Linken. Das Volk ist bei Marine Le Pen (https://de.wikipedia.org/wiki/Marine_Le_Pen) nicht dasselbe wie bei Mélanchon (https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Luc_M%C3%A9lenchon).

Abstimmungskultur

Wo eine Abstimmungskultur vorhanden ist (Schweiz, Kalifornien), darf man sich erlauben, (dem Volk) Fragen zu stellen, bei denen es um sehr präzise Entscheidungen geht, z. B.: Sollen Mindestlöhne angehoben werden? Müssen die Migrationsströme Gegenstand strengerer Verordnungen sein? Es ist auch denkbar, alle zehn bis fünfzehn Jahre einmal mit einer schwerwiegenderen Frage vors Volk zu treten. Dieses kann dann unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung und Folgenschwere mit einem Ja oder einem Nein antworten.

Wo es an einer Abstimmungskultur mangelt, ist die Vorlage einer solchen Entscheidung völlig fehl am Platz, antidemokratisch, scheindemokratisch. Dies träfe/trifft für Frankreich und für das Vereinigte Königreich zu. Tut man es trotzdem, benutzen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Gelegenheit dazu, sich über ihr Verhältnis zu den Regierenden auszudrücken. Die Briten haben sich durchaus zu Europa geäußert. Aber sie taten auch ihre Meinung über jene pro-europäischen Londoner (Finanz-)Elite ihre Meinung kund, der sie mal einen Tritt in den Hintern verpassen wollten.

Geschichtsunwissenheit

Zu diesem und weiteren Punkten hatte Professor Jamin keine Gelegenheit, sich während des Interviews zu äußern. Schade. Darum einige persönliche Anmerkungen: Auch mit Zahlen lässt sich trefflich streiten. Die Schweizer, deren »Staatsfernsehen« eidgenössische Umfrageergebnisse nahezu immer aus der gleichen Quelle bezieht, können ein Liedchen davon singen. Ähnlich in Großbritannien. Mit »genmanipulierten« Statistiken gelingt es, praktisch alles, einschließlich des Gegenteils, zu beweisen. Gewisse Medien, außerhalb GB, hauptsächlich in der Schweiz, hatten offenbar ein Interesse daran, die Brexit-Befürworter ungebildet und alt aussehen zu lassen. Neulich hat hier jemand einer SP-Parlamentarierin doch tatsächlich ins Gehirn geschrieben, abgegebene Stimmen müssten nach Alterskategorien gewichtet werden. Nun arbeitet die Linke ohnehin darauf hin, möglichst alle jene als Stimmvolk zu definieren, die sie ihr gewogen vermutet. Im genannten Fall handelt es sich fraglos um eine lächerliche Anbiederung an die Jugend, nach dem Motto »Schengen ist cool«. Nun wird jedoch Jugendwahn kaum Erfahrung ersetzen können. Deren Erwerb setzt in der Regel eine gewisse Anzahl Jahre voraus.

YouGove Exit polln

Wer nun aber die Grafik YouGove exit poll einigermaßen zu interpretieren weiß, wird bemerken, dass für eine mittlere Alterskategorie das Bild der horizontal hälftig geteilten Tessiner-Fahne gleicht.

Dass jene britischen Bürger, die vielleich noch (Kindheits-)Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg haben, z.B. an Bombennächte in Stationen der Untergrundbahn, dem »Friede, Freude, Eierkuchen-«Prinzip misstrauen, hat weniger mit Senilität zu tun, als mit einer etwas realistischeren Einschätzung der Geschichte.

Wenn die Briten sich möglicherweise mehr Richtung USA orientieren, kann das mit der Sprache zu tun hab en. Ein geschichtlicher Grund liegt aber auch darin, dass ihnen dieses Land in zwei Weltkriegen zuverlässig zur Seite stand, während die Mächte des europäischen Kontinents England in regelmäßigen Abständen bedrohten und sich immer wieder gegenseitig zerfleischten.

Geschichtswissen kann man auch geeigneten Büchern entnehmen. Dazu empfehlen sich die Memoiren von Winston Churchill und, hauptsächlich für junge Schweizer: »Target Switzerland: Swiss Armed Neutrality In World War II« von Stephen P. Halbrook. Aus solcher Lektüre wird ersichtlich: Unsere Vorgängergenerationen haben ganz andere Opfer gebracht als die Aufgabe einiger Reiseerleichterungen oder ein paar materielle Einschränkungen.

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Margaretha G

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Silvia Jelincic

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