Abschied in Raten - Erkenntnisse

Der Rettungstransport mit meiner Mutter und Josef ist noch nicht lange weg. Ich sitze immer noch in der Küche und versuche zu verstehen. Aber irgendwie greift mein Verstand immer ins Leere. Gestern war die Welt noch eine bekannte, vertraute, aber jetzt steht irgendwie alles Kopf.

Ich ertappe mich dabei, den gestrigen Tag Revue passieren zu lassen. Eine unruhige Nacht endete wie immer mit der morgendlichen Fragestunde, die meine Mutter wie seit Jahren damit beginnt, dass sie irgendwann lange vor dem Sonnenaufgang nach Josef ruft und fragt, ob sie noch schlafen kann. Josef, der aufsteht, geduldig die immer gleichen Fragen meiner Mutter beantwortet, und dann - im Wissen, dass er ohnehin nicht mehr einschlafen kann - Kaffee kocht.

Meine Mutter schläft dann wieder ein, auch das ist ein ganz normaler Vorgang. Josef und ich trinken Kaffee und unterhalten uns über dies und das.

Dann steht meine Mutter auf, gestern so gegen halb neun. Queen Mum - wie Josef meine Mutter liebevoll nennt, verlangt nach ihrem Frühstück. Dann hocken die beiden am Küchentisch und Josef leistet meiner Mutter beim Essen Gesellschaft.

Seit ein paar Tagen bekommt sie ein neues Medikament, da sie seit geraumer Zeit wieder begonnen hat, Menschen oder Dinge zu sehen, die nicht da sind. Da ihr das oft Angst macht, bestand Handlungsbedarf.

Es soll ihr die Angst nehmen und die Unruhe eindämmen.

Ob das Medikament anschlägt, ist noch nicht ersichtlich. Tagsüber gelingt es oft durch Ablenkung, meiner Mutter die Angst zu nehmen, nachts ist es definitiv schwieriger.

Der Vormittag ist fast zu Ende und Josef quatscht mit meiner Mutter übers Kochen. Selbst wenn vieles, was meine Mutter von sich gibt, keinerlei Sinn ergibt, bleibt Josef geduldig und nimmt vieles mit Humor.

Josef kocht und meine Mutter steht auf und fällt nach ein paar Schritten um. Der Gang war nicht schwankend, nicht unsicher, sie fällt einfach um und weder Josef und ich können nachvollziehen, warum das passiert ist.

Während ich hier also sitze und auf die Rückkehr von meiner Mutter und Josef warte, krame ich mir den Beipackzettel des neuen Medikamentes aus der Schachtel.

Bei älteren Parkinson-Patienten oder Demenz-Kranken kommt es unter Risperidon-Behandlung gehäuft zu Störungen der Bewegungssteuerung (erhöhtes Sturz-Risiko), zu Verwirrtheit und Abstumpfung.

Besonders bei älteren Personen mit Demenz, Bluthochdruck, arteriellen Durchblutungsstörungen und schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen treten unter Risperidon-Therapie vermehrt Schlaganfälle auf und die Sterblichkeitsrate ist erhöht.

Ich frage mich, warum uns niemand darauf hingewiesen hat. Schließlich ist es bekannt, dass meine Mutter Demenz hat.

Dann sind sie plötzlich da. Heftige Schuldgefühle. Schließlich muss es doch eine Ursache für den Sturz gegeben haben. Und nun hat die Ursache einen Namen. Wir selber sind möglicherweise dafür verantwortlich, dass meine Mutter gestürzt ist.

Die Erkenntnis schockiert mich. Unfähig etwas anderes zu tun, bleibe ich sitzen, starre den Beipackzettel an und höre zu denken auf.

Am frühen Nachmittag kommt Josef mit meiner Mutter nach Hause. Meine Mutter hat eine Unterarmmanschette und der Bruch wurde ohne Narkose eingerichtet. Josef sagt, dass meine Mutter so abwesend war, dass sie es ohne einen Ton von sich zu geben, über sich ergehen hat lassen. Und er teilt mir mit, dass abends unsere Hausärtzin vorbeikommen wird. Schließlich können wir meine Mutter nicht verdursten oder verhungern lassen, und es muss eben jetzt ein Weg gefunden werden, wie wir mit der Situation umgehen.

Mir kommt alles sehr unwirklich vor, vielleicht bin ich auch nur vollkommen übermüdet. Also mache ich das, was mir in diesem Moment als einzig sinnvoll erscheint.

Ich lege mich aufs Bett und dann schlafe ich völlig erschöpft ein.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 12.03.2016 20:13:25

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