Nach monatelangem Ringen zwischen der neuen, mehrheitlich linken Regierung unter der Führung von Alexis Tsipras (Syriza) einigten sich „die Insitutionen“ und Griechenland. Nun folgt der bemerkenswerteste, demokratische Moveseit Jahren: Tsipras lässt das Volk abstimmen. Das kann ein riesiger Schritt in Richtung Redemokratisierung der Europäischen Union sein.

„Demokratie verdient einen Schub in Europa-bezogenen Belangen. Wir haben abgeliefert. Lasst die Menschen entscheiden (Lustig, wie radikal dieses Konzept klingt!)“, twitterteder griechische Finanzminister Yanis Varoufakis in der Nacht von gestern auf heute. Die Volksabstimmung, die rechtlich bindend ist, kündigte Premierminister Alexis Tsipras Samstagfrüh in einer TV-Ansprache an. Rentenkürzungen statt Reichensteuer – das ist einer der Kernpunkte, den „die Insitutionen“, vormals „Troika“, dem griechischen Volk oktroyieren wollen. Europäische Union, Europäische Zentralbank (EZB) und Internationaler Währungsfonds (IWF) hatten, um Griechenland weitere Hilfskredite zum Bedienen bestehender Kredite, ein hartes Sparprogramm aufbrummen wollen. Europäische Medien wurden oder ließen sich instrumentalisieren, um Griechenland die Pistole auf die Brust zu drücken und zu unterschreiben.

Ich will gar nicht so sehr auf die konkreten Inhalte eingehen. Aber angeführt vom deutschen, neoliberalen Austeritätsprogramm sollten dem wohl im Grunde bankrotten Land weitere Sparmaßnahmen verordnet werden. Klar, Griechenland muss reformieren. Das haben Nea Demokratia und PASOK, also quasi die ÖVP und die SPÖ des Landes, in den Jahren der Krise verabsäumt. Beziehungsweise wurde an der breiten, weitgehend unschuldigen Masse gespart, nicht am eigenen Apparat oder bei den Reichen. Diese Suppe löffelte die Regierung Tsipras in den letzten fünf Monaten aus, wurde beleidigt, verarscht, als Trotteln hingestellt. Dabei drücken Syriza und Unabhängige Griechen (ANEL), die einzige, leider rechtspopulistische Partei, die ebenfalls gegen die Austerität auftrat, den Willen der Mehrheit des Volkes aus; zumindest im Rahmen der griechischen Wahlordnung.

„Die Vorschläge umfassen eine weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes, Pensionslürzungen, weitere Einsparungen im Verdienst im öffentlichen Sektor, eine höhere Mehrwertssteuer auf Essen und Tourismus, bei gleichzeitigem Abschaffen der Steuererleichterungen für die griechischen Inseln. [...] Diese Vorschläge verletzen europäische soziale und fundamentale Rechte. […] Das Ziel mancher Partner und Institutionen ist nicht ein machbares und für alle vorteilhaftes Vorgehen, sondern eine Demütigung für ganz Griechenland“, das sagte Tsipras in seiner TV-Ansprache. Bedenkt man die Tatsache, dass Syriza und ANEL gemeinsam nur auf 41,09 Prozentpunkte der Stimmen kamen und somit weniger als die Hälfte des Volkes repräsentieren, ist es nur folgerichtig, das Volk abstimmen zu lassen. Da diese Vorschläge ja einerseits doch weit neben den eigenen Wahlversprechen gelegen sind, andererseits möglicherweise knapp 60 Prozent der wahlberechtigten Griechen das wollen. Umgekehrt würde eine Zustimmung die Zukunft Griechenlands in Europa maßgeblich absichern.

Die Volksabstimmung ist tatsächlich ein Riesenschritt Richtung Redemokratisierungder EU. Denn eines ist klar. Der Rat der Europäischen Union, quasi der Ministerrat, dem alle Fachminister*innen angehören, ist demokratisch kaum legitimiert. Diese können entscheiden, wurden aber nicht direkt vom Volk gewählt. Anders als etwa in Österreich, wo gewählt und koaliert wird. Natürlich muss das Parlament auch zustimmen, aber die Minister*innen sind gemäß nationaler Parlamente entsandt worden, nicht aufgrund der Sitzeverteilung gemäß EU-Wahl. Wenn die Griechen nun über etwas abstimmen lassen, was nicht-demokratisch legitimierte Insitutionen wie Ministerrat der EU, EZB und IWF ausgemacht haben, ist das tatsächlich ein Schub für Europa.

Griechenland hat die Demokratie schon einmal entwickelt. Egal, wie die Volksabstimmung ausgeht: Folgt man dem Beispiel, ist das ein Fortschritt für die Demokratie in der EU und für uns alle, da wir vielleicht in Zukunft mehr in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Vielleicht enden damit die Zeiten, in denen „Brüssel“ etwas beschließt und wir es annehmen müssen. Die EU ist eine großartige Idee, aber die Demokratie fehlte bislang in vielen Entscheidungen. Danke, Alexis Tsipras, Yanis Varoufakis, alle anderen Verhandler*innen, Syriza und auch ANEL!

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Bernhard Juranek

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Richard Krauss

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