Ein knirschendes Geräusch fährt ihm durch Mark und Bein. Die Pupillen trotz zusammengekniffener Augen weit offen, hat er plötzlich scheinbar alle Zeit der Welt, das, was sich von außen wahrnehmbar in Sekundenbruchteilen abspielt, in aller Ruhe zu betrachten. Okay, er wird also wohl einen Werkstatttermin ausmachen müssen. Es hört sich so an, als wäre der Kotflügel wohl etwas beleidigt. Naja, vielleicht sogar die Radaufhängung, wenn er da ein wenig näher hinhört. Ein Glück, dass im wohl richtigen Moment die mahnenden Worte des Fahrtechniktrainers in sein Hirn geschossen sind: „Es gibt Momente, in denen das Lenkrad zu einem Halterad wird, und solche, in welchen man die Hände vollkommen davon lassen sollte.". Ja, seine Handwurzeln hat er so wohl vor Schaden bewahren können.

Als sich dann die Schwerkraft scheinbar anschickt, ihre Gültigkeit zu verlieren, sind es nicht nur die Eindrücke des Momentes, welche wie in einem Zeitraffer an ihm vorbeiziehen: war es eben noch nur der Fahrtechniktrainer, der plötzlich präsent war in seinem Gedankenkino, so sind es nun auch zahlreiche andere Menschen. Menschen, welche seinen bisherigen Lebensweg begleitet haben. Solche, die er sofort erkennt, aber auch solche, zu denen er sein Hirn zermartern muss, um sich an ihren Namen zu erinnern. Thema ihrer Unterhaltung mit ihm scheint zu sein, welchen Fußabdruck sein Wirken auf der Welt hinterlassen hat. Da waren die, die ihn tränenerfüllt beschworen, doch bitte zu bleiben, da er sie bereichere. Andere, die mahnende Worte fanden an die noch zu erledigenden Aufgaben. Einige meinten auch, dass es ohnehin Zeit für ihn wäre, sich zu verzupfen. Noch bevor er sich nun darüber Gedanken machen kann, welche dieser Urteile über ihn besser dazu geeignet sind, vehement zu protestieren gegen seine Verabschiedung, wird die einen Kinofilm füllende Menge aus Dialogen und Bildern aus seinem Leben schließlich jäh unterbrochen durch einen lauten Knall. Gefolgt von einem weiteren, deutlich leiseren. „Okay, jetzt heißt es, sich klein zu machen, da das Dach wohl gleich Ziehharmonika spielt", springt seine Aufmerksamkeit wieder exklusiv in die Gegenwart.

Einige Momente später befindet er sich mitten in einer Menge von Menschen, welche entsetzt auf das unten im Graben hinter der die Straße begrenzenden Mauer gleich einem gestrauchelten Käfer auf dem Dach liegende Auto starren. Wahnsinn, wie rasch Rettung, Feuerwehr und Polizei da waren. Als er seine Kleidung von diversen Kleinstteilen abstreifend die viel gestellte Frage, was wohl mit dem Fahrer sei, mit einem „ich bin eh da" quittiert, zeigen ihm die ungläubig groß aufgerissenen Augen, welch Glück er hatte. Auch wenn ihn die rasante Geschwindigkeit des Geschehens auf der Welt wieder in ihren Sog gezogen hat, so hat sich doch etwas geändert. Die wohltuende Umarmung jener Frau, die ihn abholte vom Unfallort, die mahnenden Worte des über die Vitalwerte verblüfften Notarztes über die möglichen Folgen von Schock und die zahlreichen netten an ihn gerichteten Worte wirken wie ein Polster, welche ihn auffangen, um ihm zu sagen: Willkommen in einer neuen Chance.

Auch wenn die ständigen neuen Chancen, die man erhält, nicht immer so eine dramatische Inszenierung begleitet, so sind sie doch ständig da. Ein Grund dafür, von Zeit zu Zeit innezuhalten. Die Welt auch mal – bildlich – für einen Perspektivenwechsel auf den Kopf zu stellen und zu fragen: was von all dem, wofür man stehen möchte, hat man bereits geschafft. Und wo bedarf es noch einer Anstrengung und vielleicht auch eines Kurswechsels, um den Fußabdruck, welchen man einige Zeit sichtbar hinterlässt auf dieser Welt, so zu gestalten, wie es dem eigenen Selbstbild entspricht.

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Silvia Jelincic

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Hansjuergen Gaugl

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