Der gebeugte Mensch und das stille Kind

Leichter Südwind wehte über die große Wiese, die sich im Morgentau reckte. Die Sonne strahlte zart vom Himmel. Kleine Feldblumen öffneten verschlafen ihr Gesicht. Es war noch früh am Morgen. Kein Mensch war zu sehen. Ich bin fast täglich auf dieser Wiese. Ich liebe sie, wenn sie einsam ist und die Philosophen zu sich einlädt, die dann ein wenig auf ihrem Grund verweilen.

Die Wiese ist ungefähr 5000 Quadratmeter groß, hat leichte Hanglange und grenzt an zwei Seiten an den Wienerwald. Das Gras der Wiese reicht in der Regel bis über die Knöchel. Gemäht wird nur dreimal im Jahr. Dann riecht es über weite Strecken tagelang nach frischem Gras und Kräutern. Am Morgen erwacht man mit diesem Duft in der Nase. Das ist wunderschön.

Mehrere Wege oder Pfade in der Wiese zeigen, welche Route die Spaziergänger gerne nehmen, hinüber in den Wald oder zur Straße hinauf, die von Baumgruppen verdeckt ist.

Ausflügler sind am Wochenende gerne hier. Kleine Kinder lassen Drachen steigen, große Kinder schicken ihre Drohnen in den Himmel. Hunde bellen und spielen.

Doch wochentags, besonders in den Morgenstunden, gehört die Wiese mir ganz allein. Mir und meinem Hund. Nur ein paar Krähen leisten uns Gesellschaft. Sie lauern im hohen Gras auf Mäuse und Maulwürfe. Manchmal verschwinden sie kurz in kleinen Erdmulden und tauchen dann wieder auf.

Am Samstagmorgen, als ich auf der leicht abfallenden Wiese etwas höher stand, sah ich, wie sich weiter unten etwas bewegte. Ich hielt die linke Hand über die Augen, um besser gegen die Sonne sehen zu können und erkannte in weiterer Entfernung zwei Personen, eine große und eine kleine. Sie befanden sich auf jenem Weg, der quer über die Wiese von einem Waldstück zur Straße hinaufführt, die von Baumgruppen verdeckt ist. Ich spähte noch einmal genau, ob sie einen Hund mitführten, denn zu allen Hunden und ihren Besitzern ist mein Hund nicht freundlich und dann muss ich vorsichtig sein. Ich muss dann Abstand halten.

Die beiden Personen führten keinen Hund mit. Ich beschloss dennoch zu warten, denn etwas an dem Paar war seltsam. Die größere Person ging leicht gebeugt und langsam, fast bedächtig, wie ein müder Bergsteiger. Die kleinere Person hatte die Größe eines Kindes und ging sehr ruhig an der Hand der anderen Person. Das war ungewöhnlich. Kinder auf dieser Wiese laufen stets hin und her, tollen herum, schreien oder quietschen vor Vergnügen. Auf dieser großen Wiese muss man nicht an der Hand eines Erwachsenen gehen. Dennoch ging das Kind an der rechten Hand der größeren Person und wurde zeitweilig von deren Körper verdeckt. Sie gingen fast im Gleichschritt und ihre Kleidung war schwarz oder dunkelgrau. Kein helles oder buntes Kleidungsstück war zu sehen.

Ich beschloss, die beiden Personen in einer Entfernung von rund 200 Metern an uns, meinem Hund und mir, vorüberziehen zu lassen. Das würde ein Geduldspiel werden, denn sie gingen sehr langsam. Der Hund setzte sich und schaute gebannt auf die sich bewegenden großen Punkte. Ich schlüpfte inzwischen aus den Schuhen und zog mir die verflixten Halbsocken wieder über die Fersen hoch. Das dauerte nicht länger als zehn Sekunden. Als ich den Blick wieder hochhob, waren beide Personen verschwunden, spurlos. Die Wiese rund um sie war leer. Das konnte es doch nicht geben! Sie konnten sich doch nicht in Luft aufgelöst haben?! Hatte der Erdboden sie verschluckt? Waren sie in eine Erdmulde gefallen? Nein, dafür waren sie zu groß.

Ich setzte mich mit dem Hund in Bewegung. Wir suchten das gesamte Areal nach den beiden Personen ab. Womöglich war ihnen etwas zugestoßen, waren sie ohnmächtig geworden und gestürzt? Was hätte sich noch in zehn Sekunden ereignen können? Ein Hubschrauber war nicht gelandet, um die beiden hochzuseilen und wegzufliegen. Waren sie nur müde geworden und hatten sich hingesetzt, hingelegt? Liegende Personen verdeckt die Wiese manchmal.

Das Grübeln nahm kein Ende. Am konsequenten, beharrlichen, wenn auch etwas langsamen Gang der beiden Personen war nicht die Absicht auf eine Ruhepause oder gar ein Picknick zu erkennen. Sie trugen keinerlei Gepäck bei sich.

Sie konnten aber in zehn Sekunden unmöglich den Ausgang der Wiese erreicht haben, auch nicht laufend, höchstens fliegend.

Die warme Morgensonne erleichterte uns die Suche, aber da war niemand. Ich ging mit dem Hund die gesamte Wiese auf und ab, kreuz und quer. Niemand war da. Nur der Hund, ein paar Krähen und ich.

Eigentümlich berührt schlenderten mein Vierbeiner und ich nach Hause. Was war das nur für ein seltsamer Spuk? Es tat mir leid, nicht das Smartphone mitgehabt zu haben. Wer waren die beiden? Besucher aus einer anderen Dimension? Dann und wann soll es ja Schnittpunkte zwischen den Welten geben.

Hatte ich einen Tagtraum? Mit Tagträumen habe ich keine Erfahrung. Was schreibt Wikipedia zu Tagträumen?

Unter Tagträumen werden Bilder des inneren Auges verstanden, leichtere Formen von Bewusstseinserweiterungen. Hierbei entfernt sich die  Aufmerksamkeit von den äußeren Reizen der Umwelt und unmittelbar anstehenden Aufgaben und wendet sich der inneren Welt zu. Untersuchungen zeigen, wie weitverbreitet das Tagträumen ist, wenn Menschen allein sind oder sich entspannen. Die meisten Tagträume werden als angenehm und nicht peinlich geschildert und treten kurz vor dem Einschlafen auf; nur selten ist mit ihnen z. B. während der Mahlzeiten zu rechnen.

Tagträume kreisen häufig um praktische Angelegenheiten, die zukünftig zu erledigen sind, und zwischenmenschliche Fragestellungen. 

Weiters schreibt Wikipedia:

Neurowissenschaftler stellten in einem Versuch mit 19 Testpersonen fest, dass die Gehirne vor allem dann zu Tagträumen neigen, wenn die Probanden wenig arbeiten mussten. Wenn keine anspruchsvollen Aufgaben zu lösen waren, begannen ihre Gedanken umherzuschweifen. Bei diesen Tagträumen wurden bestimmte Gehirnregionen aktiviert, die sich deutlich von denen unterschieden, die für die konzentrierte Arbeit genutzt wurden. Die Tagträume waren umso intensiver, je aktiver das neuronale Netzwerk war. Wenn die Probanden untätig waren, wurden die meisten Träume induziert. In diesem Zustand war das „Standardnetzwerk“ am aktivsten, ein über das ganze Gehirn verteiltes Netz von Arealen. Dessen Aktivität sank entsprechend, wenn die Probanden wieder Aufgaben lösen sollten.

Im Katathymen Bilderleben, mit welchem einige Psychologen arbeiten, soll man die Phantasie schweifen lassen und Imaginationen schmücken.

Fragte mich jemand, was die beiden Wanderer, die größere und die kleinere Person, bedeuteten, so fiele mir spontan ein: Die größere, leicht gebeugte Person, an deren Hand das stille Kind ging, könnte der liebe Gott gewesen sein und an seiner Hand führte er die Welt, das kleine Kind, den sonnigen Wiesenhügel hinauf.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt sich der Mensch.

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