Der grüne Zeitgeist hat sich zu Tode gesiegt – die Zeiten sind zu hart für Ideologen und Rechthaber

Die Grünen haben offenkundig ihren Zenit überschritten. In Deutschland kennen sie bei Wahlen nur eine Richtung: nach unten. Sie sind aus den Landesregierungen in Hessen und Berlin geflogen. In der Schweiz verloren sie bei den nationalen Wahlen deutlich Stimmen; bekannte Figuren der Partei schafften den Wiedereinzug ins Parlament nicht.

Von den Grünen lernen heisst jetzt verlieren lernen. Noch vor wenigen Monaten schien der grüne Zeitgeist übermächtig. Warum jetzt diese abrupte Wende?

Dass es die Grünen in der Schweiz und in Deutschland trifft, zeigt eines: Es handelt sich nicht um ein nationales Phänomen. In Deutschland akzentuiert sich die Lage der Partei nur, weil sie der Regierung angehört und so am Erreichten gemessen wird.

Es wäre zu billig, für die Wahlniederlagen nur die Themenkonjunktur verantwortlich zu machen. Natürlich wecken die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen das Bedürfnis nach Sicherheit, und die Inflation heizt die Abstiegsängste der Mittelschicht an. Bei Verteidigung und Wirtschaft sprachen die Wähler den Grünen noch nie Kompetenz zu.

Auch bei der Migration sehen die Grünen alt aus. Sie verteidigen mit Zähnen und Klauen offene Grenzen, während die anderen Parteien nach Beschränkungen rufen. Doch das genügt nicht, um den Niedergang zu erklären. Gerade in Deutschland haben die Grünen Erfahrungen mit politischen Wetterstürzen. Erstmals an der Macht, führte die pazifistische Partei die Bundesrepublik gleich in zwei Kriege. Aussenminister Fischer musste die Beteiligung an den Einsätzen in Kosovo und in Afghanistan rechtfertigen.

Die Partei war in Aufruhr (wie jetzt in der Migrationsfrage). Fischer wurde am Parteitag in Bielefeld Opfer einer Attacke (das muss Habeck in Karlsruhe nicht fürchten). Die Grünen wuchsen an den Herausforderungen, weil sie ihre Politik den Realitäten anpassten.

Die Grünen wollten den Menschen einreden, dass Klimaschutz gratis sei

Heute herrscht statt Kampfesmut Tristesse, und das hat einen triftigen Grund. Der Umweltschutz bildet noch immer den Kern der Identität. Versagen die Grünen dabei, verlieren sie ihre Existenzberechtigung. Hier müssen sie beweisen, dass sie ihre Programmatik in ein zeitgemässes Gewand kleiden können. Genau das aber misslingt den Grünen. Statt praktische Antworten zu liefern, klammern sie sich an ihre Ideologie.

In Deutschland werden Wind und Sonne nie den Strombedarf decken können, solange es an Speichern fehlt. Jedes neue Windrad, jede zusätzliche Photovoltaikanlage verschlimmert das Dilemma nur. Gibt es genügend Wind und Sonne, wird zu viel Strom produziert. Ist es hingegen grau und windstill, herrscht Energiemangel. Daher muss man den überflüssigen Strom zu negativen Preisen im Ausland verschleudern, um ihn dann wieder teuer einzukaufen. Seit die letzten Atomkraftwerke abgestellt sind, akzentuiert sich das Problem.

Weniger Exporte, dafür häufiger zu negativen Preisen

Stunden, in denen Deutschland mehr Strom exportiert als importiert hat, während dieser zu positiven oder negativen Preisen¹ gehandelt wurde

Weniger Exporte, dafür häufiger zu negativen Preisen - Stunden, in denen Deutschland mehr Strom exportiert als importiert hat, während dieser zu positiven oder negativen Preisen¹ gehandelt wurde

¹ Day-ahead-Preis des vortägigen Stromhandels.

Quellen: Entso-E, Epex Spot, energy-charts.infoNZZ

Ohne Speicher und Kraftwerke für den Grundbedarf gelingt die Energiewende nicht. Daher brummen die Kohlekraftwerke und beschleunigen mit ihrem CO2-Ausstoss den Klimawandel, den die Grünen angeblich bremsen wollen. Die Grünen sind also Heuchler und Pharisäer, solange sie nicht als Denkmöglichkeit den Bau von Atomkraftwerken akzeptieren oder einen anderen Ausweg aus dem Dilemma skizzieren.

Heuchler und Pharisäer – davon können auch die Schweizer Grünen ein Lied singen. Angeblich setzen sie sich für die erneuerbaren Energien ein, doch das ist nur ein Lippenbekenntnis. Sobald es konkret wird, ducken sie sich weg. Wenn in den Alpen eine Photovoltaikanlage gebaut oder eine Staumauer erhöht werden soll, stellen sich Grüne zuverlässig dagegen. Die Schweiz steuert auf einen akuten Strommangel zu.

Man muss kein Energieexperte sein, um zu sehen, dass die Grünen keinen Plan haben und mit ihnen nur eines gewiss ist: Deindustrialisierung und Verarmung. Sie schieben die Verantwortung einfach auf die Bürger ab: Fliegt nicht, fahrt kein Auto, esst kein Fleisch!

Die Wähler merken, dass die Grünen Halbwahrheiten und Lebenslügen auftischen. Dazu zählt die Behauptung, dass die Energiewende gratis zu haben sei. Tatsächlich kosten CO2-arme Kraftwerke, Pumpspeicherwerke, die Umrüstung der Industrie auf Wasserstoff sowie die nötige Netzinfrastruktur viel Geld. Allein für den Ausbau der Stromleitungen werden in Deutschland 300 Milliarden Euro veranschlagt.

In Deutschland ist die Lüge gerade aufgeflogen. Seit dem Urteil des Verfassungsgerichts zum Klimafonds fehlen 60 Milliarden Euro. Mit verfassungswidriger Schuldenmacherei wollte die Ampelkoalition die Energiewende subventionieren. Jetzt bleibt entweder der Klimaschutz auf der Strecke, weil man sich nicht traut, Unternehmen und Bürger stärker zu belasten. Oder es kommt zu Verteilungskämpfen bei anderen Etatposten.

Was ist wichtiger: Klimaschutz oder mehr Sozialhilfe für Kinder oder doch ein Ende der Schuldenbremse? Auch ein weiterer Fonds, mit dem die Regierung die wahren Kosten ihrer Energiepolitik verschleiert, ist wohl verfassungswidrig. Hier geht es um 200 Milliarden, um Strom, Gas und Fernwärme künstlich zu verbilligen. Unter dem Druck der Verfassungsrichter kommt Ehrlichkeit in die Debatte. Für die Grünen ist das eine Katastrophe, weil nun ihr Moralismus einem Realitätscheck unterzogen wird. Moral muss man sich leisten können.

Die Grünen können sich die reine Moral nur dank den Steuermilliarden leisten, mit denen sie die Widersprüche ihrer Politik kaschieren. Das gilt nicht nur für den Klimaschutz. So sind die Gemeinden mit der Unterbringung von Asylmigranten überfordert. Das ist egal, solange sich noch ein Fördertopf findet und es irgendwie weitergeht.

Das funktioniert nicht mehr, weil im Gegensatz zur Ära Merkel die Kassen leer sind. Wie bei jeder Ebbe kommt zum Vorschein, was vorher gnädig verborgen blieb. Bei der Migration ist es die Lebenslüge, wonach man alle Einwanderer aufnehmen kann. Doch kommt Deutschland nicht nur finanziell an seine Erschöpfungsgrenze.

Die Toleranz für ideologische Übertreibungen nimmt in schwierigen Zeiten ab

Hohe moralische Ansprüche sind an sich noch kein Problem. Vor den Grünen waren es die Sozialdemokraten, die das Paradies auf Erden versprachen: Sozialismus, Pazifismus, Feminismus und Antikolonialismus – das Angebot zur Weltverbesserung war schon früher breit sortiert. Bei aller Moral vergassen die Sozialdemokraten aber nie, den Alltag ihrer Wähler zu verbessern, mit mehr Rente oder dem Abitur für Arbeiterkinder.

Wenn man die Bürger als Ausländerfeinde und Egoisten beschimpft, was die deutschen Grünen gerne tun, dann muss man ihnen konkrete irdische Verbesserungen versprechen. Der andere Köder, um Menschen Masochismus schmackhaft zu machen, nämlich die Erlösung im Jenseits, ist aus der Mode gekommen.

Die Grünen offerieren weder das eine noch das andere. So ist die Krise der Grünen letztlich eine Auseinandersetzung um das Selbstverständnis linker Politik. Genügt die reine Lehre, oder heisst Politik, in kleinen Schritten das Leben zu verbessern? Revolution oder Reform? Es geht um die Grundfragen, die sich Linke seit mehr als 150 Jahren stellen.

Beim Heizungsgesetz bot Wirtschaftsminister Habeck nur Ideologie, aber kein praxistaugliches und sozialverträgliches Konzept. Auch Familienministerin Paus wollte bei der Kindergrundsicherung mit dem Kopf durch die Wand. Kanzler und Finanzminister stutzen ihre Pläne zurecht. Jetzt träumt Paus davon, für die Auszahlung der Sozialleistung eine neue Behörde mit 5000 Stellen zu schaffen.

Selten hat sich eine Regierungspartei verbohrter und starrsinniger gezeigt. Wenn die greifbaren Resultate ausbleiben, nimmt zugleich die Toleranz der Wähler für weltanschauliche Überspanntheiten ab. Das Gendern ist nur noch albern; die obsessive Aufmerksamkeit für jede noch so kleine sexuelle Minderheit ist weit weg von der Lebensrealität der grossen Mehrheit. Der militante Antikolonialismus und die israelfeindlichen Parolen von «Fridays for Future» sind linksextrem und die Klima-Kleber schlicht asozial.

Um die grünen Parteien herum existiert ein Narrensaum an radikalen Gruppen und absonderlichen Strömungen. Die Krisen und Kriege der Gegenwart sind zu ernst, um sich mit solchen Verrücktheiten abzugeben. Vielleicht ist genau dies das Kernproblem der Grünen. Die Menschen haben gemerkt, dass die Grünen nicht die vernünftige und ökologische Mitte sind, als die sie sich in ruhigeren Zeiten ausgeben konnten. Der grüne Kaiser ist nackt, und plötzlich sehen es alle.

Quelle:https://www.nzz.ch/der-andere-blick/lauter-halbwahrheiten-und-zu-viel-moral-ld.1767184?mktcid=nled&mktcval=181&kid=nl181_2023-11-24&ga=1

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