Seit ich in Zürich bin, nutze ich die Wochenenden um mir die Stadt zu erlaufen.

Ich laufe kreuz und quer durch die Straßen, bis ich völlig erschöpft bin und nur noch nach Hause möchte um mich auszuruhen.

Eines Tages, die Sonne war gerade untergegangen und am Himmel leuchteten die westlichen Wolken in jenem gelbroten Licht, welches die Nacht ankündigt, stieß ich fast mit einem alten Mütterchen zusammen. Sie blickte mich böse an und warf mir ihre Einkaufstasche vor die Füße.

Laut schimpfend lief, nein, humpelte sie über die Fahrbahn und verschwand hinter dem Friedhofstor auf der anderen Straßenseite. Das alles ging so schnell wie kurios vor sich.

Schon ein paar Wochen zuvor, nach meinem Einzug im Dachgeschoß, hatte ich von ihr gehört. Zunächst war es nur der Hinweis meiner Nachbarin, ich solle mich nicht über „die Alte“ wundern. Mit einem Augenzwinkern. Mehr war wohl nicht zu sagen. Dann hörte ich am darauffolgenden Wochenende im Café jemand den Kellner fragen, ob es „die Alte denn immer noch gebe“. Man zeigte sich erstaunt, dass es so sei.

Und nun stand ich hier, mit einer fleckigen Einkaufstasche vor meinen Füßen und zugegebenermaßen sprachlos.

Ich hatte die Straße schon zur Hälfte überquert, als ich noch einmal zurücklief um ihren Namen am Klingelschild abzulesen.

Wenigstens die Tasche wollte ich ihr geben und mich für den Schreck entschuldigen.

Unter den dichtgewachsenen Bäumen waren die Friedhofswege schon sehr dunkel und erst nach einiger Zeit konnte ich Sie auf einer Bank entdecken. Sie saß schwer atmend inmitten dieses sehr alten Teils des Friedhofs und nickte regelmäßig und stumm mit ihrem Kopf.

Erst als ich schon an der Bank stand und zum dritten Mal und nun sehr deutlich den Namen Knechtling aussprach, schaute sie auf.

Sie schien gedanklich noch immer nicht im Hier und Jetzt zu sein, sodass ich mich neben sie setzte und wartete.

Man soll sich unter den Gasherd legen oder einen Anwalt nehmen.

Darauf viel mir zunächst nur ein tonloses „Wiebitte“ ein.

Um irgendwie zu reagieren stellte ich mich als ihr neuer Nachbar vor und sagte, dass Zürich eine schöne Stadt sei.

"Von da an ging es in die Hölle ab. Die arme Anna." Sie deutete auf die Grabplatten an der Friedhofsmauer ohne das klar wurde, wer Anna war. Der Friedhof lag nun, abgesehen von den wenigen Weglampen, völlig im Dunkeln.

"Mein Mann hat das Haarwasser erfunden."

Ich gab den Versuch eines vernünftigen Gesprächs auf und sprach nur noch vom Heimweg. Nach einiger Zeit gelang es mir, sie zum Aufstehen zu überreden. Wir kamen allerdings nur ein paar Schritte weit, da blieb sie wie versteinert stehen und griff nach meinem Arm.

In diesem Moment sah ich tief in ihren dunklen Augen den Schmerz und die Verwirrung, die in ihrer Seele brannten.

Wissen Sie warum die Anna dort liegt? Und der Biedermann? Alle?

Ich verneinte und sie sah mich nur stumm und auf merkwürdige Weise lächelnd an.

"Das waren alles feine Herrschaften. Die hatten eine gute Gesinnung. Die hatten sie noch, als alles brannte."

Spätestens da wurde ich merklich ungeduldig. Warum hatte eine derart stark verwirrte alte Frau eigentlich keine Pflegerin?

Oder war in einem Heim? Da würde es ihr gut gehen und die Leute hätten ihre Ruhe und müssten nicht nachts auf Friedhöfen herumlaufen.

Nach einer weiteren halben Stunde waren wir endlich an unserer Haustür angelangt. Sie humpelte wortlos an mir vorbei in den Flur und verschwant hinter ihrer Wohnungstür, ohne mich noch wahrzunehmen. Ich ließ sie, da sie wahrscheinlich wieder in ihrer eigenen Welt versunken war, in Ruhe.

Natürlich beschäftigte mich das Erlebte. Am gleichen Abend noch recherchierte ich, mit einer Flasche Wein bewaffnet, nach einer möglichen Erklärung.

Tatsächlich gab es im Jahr 1958 eine Reihe verheerender Brände in der Stadt. Einer davon nahm wohl seinen Anfang im Haus der Biedermanns, nicht unweit meines Hauses. Für alle Brände wurden Brandstifter verantwortlich gemacht, welche damals auch von der Polizei als solche gesucht wurden.

Die Brände wurden immer mit der gleichen Methode gelegt, mehr hatte man nicht ermitteln können.

Nur vor dem Brand im Biedermannhaus schien es zu ungewöhnlichen Ereignissen gekommen zu sein. Zeugen berichteten, dass es am Abend des Brandes eine Feier im Hause der Biedermanns gegeben habe und zwar gemeinsam mit den Brandstiftern. Die Zeugen wurden damals stark kritisiert und teilweise für verrückt erklärt. Warum sollte denn der angesehene Kaufmann Biedermann Brandstifter in sein Haus gelassen und mehr noch, mit ihnen gefeiert haben?

Unbestritten war allerdings, dass sich Herr Biedermann in der Zeit kurz vor der Brandnacht merkwürdig verändert habe. Hatte er noch zu Beginn der Brände in aller Öffentlichkeit gefordert, die Brandstifter zu hängen, sprach er wohl schließlich nur noch davon, dass man nicht jedem unterstellen könne, ein Brandstifter zu sein. Ebenso müsse man Vertrauen haben und dürfe nicht immer nur das Böse sehen.

Interessant waren auch die Interviews mit verschiedenen Schriftstellern aus dem In- und Ausland, welche gefragt wurden, ob dies nicht auch ein guter Stoff für ihr Schaffen sei. Sie lehnten alle mit der Begründung ab, dass dieses verwirrende und unglaubliche Geschehen einen tragischen Einzelfall darstelle, aus dem sich keine allgemeine Lehre ableiten lasse.

Kurz bevor ich genug von alledem gelesen hatte, stieß ich auf einen Zeitungsbericht, der mich auch für die restliche Nacht nicht mehr schlafen lassen sollte. In der Zeit der Brände hatte sich ein Familienvater das Leben genommen, weil er seine Anstellung beim Haarwasserhändler Biedermann verloren hatte. Die Witwe erhob schwere Vorwürfe gegen den Arbeitgeber. Dieser habe ihrem Mann ohne Grund nicht mehr vertraut und ihm nur die allerschlimmsten Absichten unterstellt. Man hätte nur noch über die Anwälte korresponidert. Dabei sei es ihrem Mann wohl lediglich um einen gerechten Anteil am gemeinsamen Erfolg der Firma gegangen, um seine Familie versorgen zu können. Er hinterließ eine Frau und drei Kinder. Sein Name war Knechtling.

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