Wir leben in einer Zeit, wo wirklich fast jede Einstellung, Haltung oder jede Vorliebe immer in eine Schublade gesteckt werden, aber ist das wirklich gut? Jemand, der gern gern Punk Rock hört, wird zum Punker, jemand, der gern Techno hört, wird zum Techno-Freak gemacht. Gleichermaßen lassen sich diese Schubladen aber auch auf das alltägliche beziehen, denn jemand, der länger keine Beziehung führt, wird häufig als notorischer Single oder beziehungsunfähig bezeichnet, aber stimmen diese Vorurteile denn? 

Während meines Studiums wurde uns in den Psychologie Fächern von Beginn an gesagt, dass wir alle in gewisser Weise in Schubladen denken, da das alltägliche Leben ansonsten zu komplex sei... Wir leben natürlich in einer Welt, in der wir dauerhaften Eindrücken und Reizen ausgesetzt sind, aber muss man deshalb dauerhaft und in jeder Lage kategorisieren? Der Laie sagt wohl "ja"! Wir können uns alle nicht frei davon machen, dass wir gewisse Dinge sehen, hören und wahrnehmen und direkt einordnen, aber, und da liegt wohl auch die Krux in Vorurteilen – wir sollten uns, wenn wir die Welt wirklich so real wie möglich wahrnehmen wollen, regelmäßig selbst überprüfen. 

Gelingt einem das im Alltag? Ich denke, wenn man sich bewusst machen würde, dass alles, was wir im Augenblick wahrnehmen, subjektiv ist- und somit nicht immer richtig oder für jeden zutreffend ist, so wäre das ein Anfang.

Gegenwärtig lassen sich Vorurteile und Schubladen aber gleichermaßen in politischem Kontext feststellen, denn wer seine Bedenken gegenüber grenzenlosem Hineinlassen von Migranten und Flüchtlingen in unserem Land äußert, wird in der Regel direkt in die rechte Ecke geschoben. Hierbei werden selten die Aussagen und Bedenken überprüft, sondern direkt geurteilt. Wir leben in einer Welt, in der man regelmäßig und bewusst einen Appell an die Masse richten muss, sich mal wieder an der Mitte zu orientieren. 

Aktuell funktioniert das leider immer weniger. Menschen, die Flüchtlingen helfen, so wie ich, werden in die linke Ecke befördert und alle anderen sind entweder Pegida-Fürsprecher oder überhaupt nicht offen für diese Welt. Viele Menschen mit denen ich gesprochen habe, positionieren sich derzeit politisch überhaupt nicht mehr, da sie sich mit keiner Partei mehr identifizieren können. Wir neigen dazu, Dinge und Situationen zu verurteilen, die uns fremd sind. Menschen, die älter sind und vielleicht sogar die Nazi-Zeit miterlebt haben oder von den Nachwehen dieser betroffen waren, haben vielleicht Angst, weil man die Welt nicht an sie herangeführt hat, ihnen die Sorge nicht genommen hat oder ihre Stimmen einfach nicht hören wollte. Ich versuche mir immer ein ganzheitliches Bild von Situationen zu machen und habe mich deshalb mit einigen älteren Menschen darüber unterhalten, was sie bewegt.

Viele von ihnen sind gar nicht per se gegen Flüchtlinge oder Menschen, die Hilfe benötigen und deshalb in unser Land kommen, sondern sie empfinden die gesamte Welt und dessen Umbruch als beängstigend und haben aktuell und nach Erfahrungen des Nationalsozialismus einfach Sorge, dass etwas in unser Land kommt, das wieder so viel Macht einnimmt, wie es einst politisch der Fall war und heute gegebenenfalls religiös der Fall wäre. Meine Erfahrung ist, dabei zu sein, hilft in der Regel ganz gut. Wir machen mit der Multikulti-Werkstatt regelmäßiges Kochen und andere Aktivitäten und es empfiehlt sich, die älteren manchmal mit ins Boot zu holen und einzuladen. Vorurteile und Ängste kann man nur durch Begegnungen und Offenlegung dieser bekämpfen. Man wird vielleicht nicht jeden ins Boot holen, aber einige. 

Grundsätzlich besteht ein gesellschaftlicher Konflikt damit, dass wir ständig aus Unwissenheit richten oder urteilen und wir vielleicht gar nicht das Recht dazu haben. Kleidung, Einstellungen oder Haltungen sagen doch noch nicht wirklich etwas über den Menschen aus, aber wir leben in einer Welt, in der alles ein "Lable" erhält, jeder sofort den anderen einzuordnen weiß und jede nur marginale Abweichung von der Norm als gestört bezeichnet wird. Ist das gesund? Haben wir uns mit so unendlich vielen Standarts und Normen und Richtwerten denn wirklich ein Gefallen getan? Gibt es in dieser Sichtweise denn überhaupt noch Raum für Individualität außerhalb der eigenen vier Wände? 

Einerseits "verlottert" unsere Welt, indem Menschen mit Sportkleidung auf die Straße gehen und gar kein Sport machen, sondern es einfach nur als "cool" oder "stylisch" gilt, und andererseits sollen wir bei der Arbeit das System nicht stören, wenn die Mühlen sich drehen, wenn wir eigene Impulse haben und sollen uns bitte anpassen.

Rein gesellschaftlich betrachtet würde ich hier von einer Doppelmoral sprechen, denn es wird von Offenheit gesprochen und von Visionen und einer Multikulti bunten Welt und andererseits schaffen einige Abteilungsleiter noch nicht mal, individuelle Bemerkungen als konstruktive Kritik anzunehmen, sondern fühlen sich direkt angegriffen. Sie richten schnell über die Qualität der Arbeit eines Mitarbeiters, haben für sich selbst eine Idee im Kopf, wie es ausschauen soll, und schmeißen die Menschen in der Probezeit heraus, wenn dieser Mensch nicht ins "Konzept" passt.

Im negativen Richten über Menschen ist die Menschheit, sowie auch die Wirtschaft recht groß geworden, das was leider abhanden gekommen ist, ist das positive Beurteilen und der Fokus auf das Positive eines Menschen. Wenn man in einen Bus einsteigt und "Guten Morgen" sagt, so gucken mindestens 50 % vollkommen irritiert und halten einen für beknackt. An Freundlichkeiten, Höflichkeiten und Benimmregeln wird gespart, ebenso wie an einem guten Miteinander und dann wundert sich die Welt, warum sich niemand mehr so richtig als Teil der Gesellschaft fühlt, sich nicht mehr mit den Werten und Normen arangiert und versucht dort auszubrechen. Diese Menschen gelten dann als Labil und werden als psychologische Notfälle abegestempelt und im Kern schauen die wenigsten wirklich mal dahinter, was dieser Person vielleicht Schwierigkeiten bereitet.

Vielleicht ist es auch die "Ignoranz" gegenüber einer gut erbrachten Leistung, vielleicht ist es ein Lob, was dieser Mensch gebraucht hätte, damit sein Tag ein wenig besser geworden wäre und er nicht so sehr an sich selbst gezweifelt hätte. Platon sagte mal: Wir haben die Fähigkeit, uns unseren eigenen Verstandes zu bedienen und dennoch laufen die meisten Menschen nur mit, weil sie die Verantwortung für einen eigenen und individuellen Weg nicht tragen können. Wenn man in seinem Umfeld mal herum fragt, wer sich so wirklich verstanden oder aufgehoben fühlt oder keine Angst vor Verurteilung oder fehlender Anerkennung hat, so ist die Anzahl derer, die das von sich sagen können, mau. Und dabei ist es eigentlich so leicht und genau deshalb so schwer, denn in unserer Welt sind so viele Dinge so komplex geworden, dass man leider häufig auch die Leichten die zu kompliziert macht. 

Versuchen Sie mal folgendes Experiment: 

Wenn Sie das nächste Mal einen Anruf von Ihrer Mutter/Vater/Sohn/Tochter/besten Freunden erhalten und dieser ihnen sein "Leid" klagen sollte, so versuchen sie mal nicht die Lösung auf dem Tablett zu liefern, sondern wirklich zuzuhören, weshalb dieser Mensch das gerade erzählen muss....

Vielleicht möchte er gar keine Zustimmung oder Ablehnung, sondern ein offenes Ohr und das Gefühl, dass er gut ist, wie er ist.

Wir sind alle sehr groß darin, anderen Ratschläge für deren Leben zu erteilen und es ist immer leichter die Dinge abzuwickeln, als hinzusehen, hinzufühlen und zu verstehen, aber es lohnt sich.

Der Wunsch von uns allen ist doch, dass Menschen, die zu uns kommen, um Kraft zu tanken auch wirklich gestärkt aus dem Gespräch heraus gehen und wir fühlen nicht wie dieser jemand, also wissen wir vielleicht auch nicht immer, ob es das Richtige ist, was wir ihm oder ihr raten würden. Motivationen, Beweggründe und Gefühle lesen und verstehen lernen ist in einer Welt, wie unserer aufwändiger, aber verspricht, dass es ernsthaftere und tiefgründigere Beziehungen werden und dieser Mensch sich vielleicht so gut aufgehoben gefühlt hat, dass er beim nächsten Mal wieder anruft. Egal, in welchem Alter und mit welcher Erfahrung, wir sollten als Menschen aufhören uns ständig das Recht herauszunehmen, immer alles zu wissen und zu verstehen.

Wir wissen ein Minimales von dem, was unsere gesamte Welt ausmacht und wir sollten uns manchmal auf die "Bescheidenheit" konzentrieren, nicht immer über alles zu richten, jeden Menschen pauschal richtig einzuschätzen und vielleicht auch nicht mal immer richtig zu verstehen. Wir sind weder Richter und Henker über die Beweggründe und Motivationen anderer und wir sollten uns, bevor wir immer verurteilen sehr bewusst machen, dass wir selbst auch nicht verurteilt werden möchten und vielleicht auch mal wieder unsere Generalurteile überdenken von Zeit zu Zeit. Die Dinge ändern sich ständig und die Menschen sich mit ihnen. Menschen haben Motivationen, die wir vielleicht nicht begreifen, aber das müssen wir auch nicht immer, sondern vielleicht auch einfach manchmal hinnehmen, dass dieser Mensch schon Gründe haben wird und ihn deshalb nicht verurteilen.

Es ist alles schnelllebig geworden und somit auch die Zeit, die wir uns mit unseren Mitmenschen wirklich befassen. Das können wir alle jeden Tag einfach ändern, indem wir bewusste "Quality Times" mit unseren Liebsten haben und dabei bewusst die Welt Welt sein zu lassen und nicht immer urteilen, sondern wachsen und voneinander lernen und profitieren in der Verschiedenartigkeit. Wir zerstören mit der Unachtsamkeit, dem Egoismus, und dem Tunnelblick auf Prestige alles, was das Leben lebenswert macht. Die meisten Menschen wissen heutzutage nicht, was Leben bedeutet, denn sie existieren als Teil des Systems, um nicht verurteilt zu werden. Ist auch leichter- wird uns alle aber nicht weiter bringen oder glücklicher machen. Nur die Toleranz, die Verschiedenartigkeit und das Miteinander sind die Basis, um sich wohler zu fühlen. Sollte jeder mal drüber nachdenken und vielleicht morgen etwas netter zu dem Subunternehmer sein, der vielleicht einfach gerade eine Krise privat durchlebt oder oder oder. Professionalität, wie sie heute definiert wird und das private Sorgen mal nicht über dem Job stehen dürfen oder dort verdrängt werden sollen, wird uns auf Dauer immer kränker machen, denn die Einsamkeit und viele andere negative Gefühle werden sich mit den Jahren des nicht verstanden Werdens verstärken. Wir müssen aufwachen und aufhören, immer allem und jedem eine Kategorie zu verpassen. Es führt uns weg davon, das Ganze in den Menschen zu sehen und ebenso ihre Qualitäten.

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bernhard.buchariensis

bernhard.buchariensis bewertete diesen Eintrag 17.08.2016 23:43:59

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