Übersetzung von Ferda Çetins Artikel "Maraş'tan Uruguay'a Kaçabilen Ermeniler"

Beim hier vorliegenden Text handelt es sich um eine Übersetzung aus dem Türkischen.

Der Artikel wurde ursprünglich von Ferda Çetin unter dem Titel "Maraş'tan Uruguay'a Kaçabilen Ermeniler" verfasst und auf der mittlerweile aus dem Netz genommenen Plattform „Aykırı doğrular“ veröffentlicht. Der Text wurde konserviert und kann in Originalsprache unter diesem Link gelesen werden: MARAŞ’TAN URUGUAY’A KAÇABİLEN ERMENİLER.

Uruguay liegt am anderen Ende der Welt. Der heutige Stand der Technik erlaubt es, das Land innerhalb gerade einmal eines einzigen Tages mit dem Flugzeug zu erreichen. Vor hundert Jahren war das noch vollkommen unmöglich. Damals konnte man ausschließlich per Schiff in das Land gelangen. Nur durch eine fünf bis sechs monatige Überfahrt konnte, die schier unüberbrückbare, Entfernung bewältigt werden. Vor einigen Jahren besuchte der Journalist Mehmet Ali Doğan im Rahmen seiner Lateinamerikaberichterstattung auch Uruguay. Als er hörte, dass dort eine große Anzahl von Armeniern lebt, erforschte er ihren Werdegang. Was er vorfand, ist die Geschichte eines hundert Jahre andauernden Exils. Daher beschloss er eine Reportage darüber zu machen.

Die erste in Uruguay geborene Generation der Armenier aus Maraş ist heute zwischen 70 und 80 Jahre alt. Mehrheitlich kennen sie jedes Detail im Leben ihrer Väter und Mütter. Sie berichten von Völkermord, dem Beginn der Jugend in einer Flüchtlingsfamilie und von persönlichen Tragödien.

Die Auswanderer bauten sich in Uruguay ein neues Leben auf. Dennoch haben sie nichts vergessen. Was auch immer notwendig war, um ihre Erinnerungen an die alte Heimat am Leben zu halten, haben sie getan. Es gibt z.B. sehr aktive Vereine. An bestimmten Tagen kommen in ihren Räumlichkeiten drei Generationen zusammen.

Einer trägt den Namen „Unión Compatriotica Armenia de Marash“ („Verein armenischer Landsleute aus Maraş“ / „Maraşlılar Derneği“).

Als der Journalist den Verein besucht, fragt ein alter Armenier Mehmet Ali Doğan, woher aus der Türkei er denn stamme. Als dieser „Ich komme aus Maraş“ zur Antwort gibt, bricht Jubel aus. “Maraşlı olsun çamırdan olsun!” (zu deutsch in etwa: „Wer aus Maraş kommt, der muss aus Lehm gemacht sein“)

Screenshot von Youtube / Mehmet Ali Doğan https://www.youtube.com/watch?v=l4094X8XxKg

Einst waren die Menschen gezwungen aus ihrer Heimat zu fliehen und naheliegend wäre es gewesen, in einem Nachbarland Zuflucht zu suchen. Aber die Massaker und das gewaltsame Vorgehen, mit dem sich die Armenier konfrontiert sahen, waren derart grausam, dass sie an die weitest möglich entfernten und unerreichbarsten Orte der Welt flohen. Viele bevorzugten es daher, nach Uruguay, Argentinien oder in die USA zu emigrieren. Sie setzten alles daran, Unterdrückung, Barbarei und Gnadenlosigkeit möglichst weit zu entkommen.

Trotz dutzender Regierungswechsel nach Stattfinden des Völkermordes an den Armeniern, erkennt der türkische Staat, einschließlich der AKP, den Genozid nicht an. Im Gegenteil, sie versuchen eine Geschichte von Türken mordenden Armeniern und zufällig bei Umsiedlungsmärschen zu Stande gekommenen Todesfällen zu erzählen. Sie versuchen darüber hinaus, der Welt glauben zu machen, die Zahl der massakrierten Armenier beliefe sich nicht auf 1,5 Millionen, sondern es sei plausibler die Opfer auf 350.000 zu beziffern. Man behauptet, das würde eine entschuldbare Zahl darstellen. Offizielle staatliche Historiker der Türkei schrieben hunderte von Büchern, um der Bevölkerung diese Lügen einzuimpfen. Jedoch zeigen die in den letzten Jahren in rascher Folge veröffentlichten Erinnerungen armenischer Zeitzeugen die ganze Absurdität dieser Opferzahldebatte und führen uns die Wahrheit vor Augen.

Der 1889 in Mezre (Provinz Elazığ) geborene Vahan Totovents beschreibt seine tragische Geschichte in “Yitik Evin Varisleri” (zu Deutsch: „Die Erben des verlorenen Hauses“, in der Türkei im Jahr 2000 veröffentlicht, ISBN 9789757265489, Verlag: Aras Yayıncılık):

„Als wir Kinder in der Silvesternacht darauf warteten, dass der Weihnachtsmann uns unsere Neujahrsgeschenke bringt, klopfte der Tod an unsere Tür. Ich hielt die Hand meines Vaters.

Sie haben uns noch freundlich die Hände geschüttelt. Arm in Arm gingen wir aus dem Haus. Während des Marsches durch den strahlend weißen Schnee verloren wir uns aus den Augen. Diejenigen, die jetzt fort gingen, kehrten nie wieder zurück“. Den Verlust von Rebeka, eine der Cousinen die Vahan Totovents am meisten am Herzen lag, beschreibt er dann wie folgt:

„Rebeka, die Tochter meiner Tante, war ein kräftig gebautes, gesundes, fleißiges Mädchen vom Geiste eines Dichters. Allein schon ihre großen, reinen, blauen Augen schienen einen einzustürzen drohenden Himmel stützen zu können. Jedoch ist dieser Himmel über den vorher noch gen Morgenröte in die Höhe schießenden weißen Lilien, die Rebeka angepflanzt hatte, eingestürzt. Rebeka wurde in die arabischen Wüsten deportiert. Die sengende Sonne hatte Muttermale in die Haut ihrer Stirn und Wangen eingebrannt. All das erfahren zu haben, hat mein Herz ausgedörrt. Rebeka! Die Greuel, die Du erlebt hast schreibend auf mich nehmend, verneige ich mich vor Dir. Nimm hiermit die Tränen Deines Bruders an…“

Hagop Mintzuri aus dem Dorf Armı bei Erzincan, beschreibt die Geschehnisse zwischen 1897 und 1940 in „İstanbul Anıları“ (Erinnerungen aus Istanbul, in der Türkei im Jahr 1998 veröffentlicht, ISBN 9789753330039, Verlag: Tarih Vakfı Yurt Yayınları / Anı - Seyahat Dizisi) folgendermaßen:

„Im April des Jahres 1915 begannen die Deportation und Vertreibung der Armenier in Istanbul. Ich war damals noch dort als Soldat. Im Mai kamen keine Briefe mehr aus der Heimat. Zweimal sendete ich ein Rückantworttelegramm, doch die Antwort blieb aus. Auf das dritte Telegramm erhielt ich diese Rückmeldung: „Sie sind nicht hier und befinden sich irgendwo auf einer unbekannten Route“. Mein Großvater Melkon war 88 Jahre alt. Meine Mutter Nanik war 55 Jahre alt, meine Kinder Nurhan, Maranik, Arahit und Haço waren 6, 4, 2 Jahre bzw. erst 9 Monate alt. Meine Frau Voğıda war 29 alt. Wie sollten sie einen Marsch durchstehen? Mein Großvater hätte es nicht einmal bis zum Brunnen von Suazeg geschafft. Temer, ein Kurde aus Gamıh war gekommen. Er war Bauer bei Lusnik, der Tante meines Cousins. Soweit ich mich erinnern kann, hat er die Felder um ihr Haus bestellt. Er sprach ebenso gut armenisch wie wir. Er brachte mir die Nachricht, dass alle Armenier am 4. Juni aus dem Dorf gebracht wurden. Er erzählte mir, dass sie noch die Türen ihrer Häuser und die Tür der Kirche küssten, bevor sie das Dorf verlassen mussten. Wenn einer ihrer Nächsten in ihrem Haus stirbt, wünschten sie sich dann nicht wenigstens gemeinsam sterben zu dürfen? Könnten sie dann noch arbeiten? Wer könnte dann schon noch Tag ein Tag aus weitermachen und arbeiten, als wäre nichts geschehen? Ich war Soldat, und ich war Befehlen untergeben. Würde ich meine Familie loslassen müssen, und mich damit abfinden ihr Schicksal nicht ändern zu können?“

In seinen Erinnerungen erzählt Hagop Mintzuri, wie er als einziges Mitglied seiner Familie überlebte und übrig blieb.

Die aus Maraş stammenden Armenier in Uruguay vermissen die Erde und die Menschen in der alten Heimat. Mit Worten wie “Maraşlı olsun çamırdan olsun“ versuchen sie uns das klarzumachen. Vahan Totovents aus Harput fasst die Liebe und die Sehnsucht nach seinem Geburtsort in diese Worte: „In diesem alten Land ruft die Sonne die Früchte herbei. Sie haucht der den Boden überziehenden unerschöpflichen Vegetation Atem ein. Flüsse plätschern, es dämmert gleichmäßig, bis die Sonne in den Armen der Abendlichter untergegangen ist. Eine bis zum Rand mit frischer Milch gefüllte silberne Schale schwimmt auf blauem Wasser. Die Nächte sind erfüllt von Geistern mit der Stimme der Sterne. Die Bäume schweben gen Horizont und alle Blumen wiegen sich sanft säuselnd.“

Vahan Totoventes studierte in den USA, bevor es ihn in die Sowjetrepublik Armenien zog. Von Stalins Regime wurde er dort 1936-1937 ins Gefängnis geworfen. Danach hörte man nie wieder etwas von ihm.

Wir haben den Armeniern nichts als Völkermord und Grausamkeit angetan. Das hat unglaublich tiefe Wunden bei den Überlebenden verursacht. Die Menschen hier in diesem Land (Uruguay) haben wir mit endloser Einsamkeit bestraft. Das haben wir denen angetan, die unsere guten Nachbarn waren, und sie haben uns ohne Nachbarn zurückgelassen. Unser Misstrauen und ihre innere Unruhe verhindern, dass wir aus unserer Einsamkeit erlöst werden.

Armenios de Marash a Montevideo, Uruguaydaki Maraşlı Ermeniler

Dokumentation von Mehmet Ali Dogan in türkischer Sprache

87 Aniversario de la Unión Compatriotica Armenia de Marash

Ein kurzer Eindruck vom 87-jährigen Jubiläum des Vereins der Armenier aus Maraş in Uruguays Hauptstadt Montevideo.

Einen gleichnamigen Verein gibt es übrigens ebenfalls in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires im Viertel Palermo.

Memories of Marash: The Legacy of a Lost Armenian Community (2002)

Englischsprachige Dokumentation von Roger Hagopian: Erinnerungen an Maraş: Das Vermächtnis einer verlorenen armenischen Gemeinschaft

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