Schlafen sei „haram“, also religiös verboten, zitierte zu Wochenbeginn der Kurzwellensender „Stimme der Türkei“ den Ministerpräsidenten des Landes, Binali Yildirim. Bei allem revolutionären Elan allerdings ließ Yildirim das Bruttosozialprodukt nicht außer Acht: die Bürger sollten „am Tag arbeiten und am Abend die Wache für die Demokratie auf den öffentlichen Plätzen halten.“

Seit November 2002 wird die Türkei von der AKP regiert. Was linke politische Führer nicht konnten und neoliberale politische Führer nicht wollten, das schreiben viele Türken der AKP als Erfolg zu: eine Politik des sozialen Ausgleichs. Dabei gilt die AKP im Westen durchaus als neoliberale – und lediglich „sozial konservative“ – Partei. Auch mit der AKP, fand man in Brüssel, Berlin und Washington, ließen sich gute Geschäfte machen.

Vielleicht kommt man der scheinbaren Einheit Erdogans und des „nationalen Willens“ der Türkei näher, wenn man die Herkunft des Präsidenten ins Auge fasst: er kam aus der Unterschicht, und er war ein Aufsteiger. Jede Beleidigung gegen den Ministerpräsidenten – und es gab viele davon, just gegen Erdogan – wurde von einem Heer chronisch gekränkter Unterstützer an der Basis als Beleidigung des Türkentums interpretiert.

In den letzten Jahren seiner amtlichen Regierungszeit – faktisch regiert er bis heute, und das mit immer noch wachsender Machtfülle – verschleuderte Erdogan viel internationalen Respekt für die Türkei: mit seinem imperialistischen Engagement in Syrien, mit einer mehrjährigen, intensiv gepflegten Feindschaft mit Israel, mit einer türkischen Auto-Agression gegen die kurdischen Staatsbürger der Republik, oder mit einem wohl eher ungewollten Konflikt mit Russland. Und in der EU dürften nach dem Putsch vom 15. Juli, den Erdogan nun zu dem seinen macht, alle Illusionen über ein konstruktives Zusammenwirken mit der AKP-Türkei verflogen sein.

„Stimme der Türkei“ meldete vor Tagen,

Der Staatspräsident [Erdogan] sagte, die Putschisten seien innerhalb der türkischen Streitkräfte ein Tumor, der nun gesäubert wurde. Er dankte den Justizeinrichtungen, die Haftbefehle gegen diese Personen erlassen haben.

Wenn es stimmt, dass, wie heute von der britischen Nachrichtenagentur Reuters gemeldet, seit dem Putschversuch vom 15. Juli fast zwanzigtausend Angehörige der Polizei, des öffentlichen Dienstes, der Justiz und der Armee verhaftet oder unter Verdacht gestellt worden seien, dürfte einleuchten, warum Erdogan sich bei seinen Vollstreckern „bedankte“: von selbst verstehen sich diese Säuberungen nicht – jedenfalls nicht unter rechtsstaatlichen Voraussetzungen. Dass Tausende von Konspirateuren Kenntnis von dem sich anbahnenden Putsch gehabt hätten, darf ebenfalls bezweifelt werden – unter solchen Voraussetzungen lässt sich ein solcher Coup lange vor seiner Ausführung unterbinden.

Es geht bei diesen Massenverhaftungen nicht um den unmittelbaren Putschverdacht. Es geht um das „richtige“ und das „falsche Denken“. Also in erster Linie um die Frage, ob die Verhafteten und Eingeschüchterten auf der Seite Erdogans stehen, oder auf der Seite Fethullah Gülens, dem die AKP die Urheberschaft des Putschversuchs anlasten möchte.

Das hat zwei Vorteile: zum einen sind Erdogan und Gülen, ursprünglich Weggefährten, seit Jahren in einem Streit miteinander verwickelt – Erdogan nimmt seine möglicherweise letzte Chance wahr, seinen mittlerweile zum Erzfeind geratenen Opponenten und seine Netzwerke in der Türkei zu schwächen.Und zum anderen kann mit diesem Mittel das türkische Miltär als unschuldig und allenfalls „unterwandert“ dargestellt werden – gerade so, als wären Militärputsche nicht Teil der türkisch-republikanischen Geschichte.

Auf diese militärische Unschuld zumindest haben sich offenbar auch die im türkischen Parlament vertretenen Parteien einigen können. Darin allerdings liegt auch einer der wenigen ermutigenden Punkte der vergangenen halben Woche: Erdogans Gegner halten zur türkischen Verfassung – noch gibt es zur AKP rechtsstaatliche Alternativen.

Dass Erdogan von vielen seiner Anhänger für die Verkörperung des Türkentums gehalten wird, wird kein Grund für alle Türken sein, dieser Täuschung zu verfallen. Aber auch – z. B. – Deutsche sollten sich vor einem solchen Irrtum in Acht nehmen.Die Bereitschaft in Deutschland, die Türkei als für Rechtlichkeit und Rechtsstaatlichkeit hoffnungslosen Fall abzuschreiben, ist erstaunlich weit verbreitet – und das ist ebenso irrational wie jene Art „Türkentum“, welches die AKP für sich monopolisieren möchte.

Erdogan allerdings will jetzt die ganze Macht. Entsprechend skrupellos handelt er – für die nächste Zeit müssen die Türkei und das Ausland mit schlimmen Szenarien rechnen. Bewahrheiten sie sich, kann es dazu kommen, dass Türken in beträchtlicher Zahl Asyl in Deutschland suchen. In einem solchen Fall ist Großzügigkeit angesagt. Sollte eine pluralistische türkische Öffentlichkeit in der Türkei nicht mehr möglich sein. muss ihr Überleben im Ausland ermöglicht werden – im türkischen und im europäischen Interesse.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Sofortbild

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Spinnchen

Spinnchen bewertete diesen Eintrag 19.07.2016 16:14:29

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