Un-Fälle (oder eine ungewöhnliche Hommage!)

Daniil Charms (1905-1942) zum Gedenken

„Schau mal…, da ist doch gerade…, da ist doch gerade jemand rausgefallen!“ Auch wenn man von dieser Wohnung hier einen guten Blick auf das gegenüberliegende Haus hat, sah Otto nicht, was ihm Traude gerade weismachen möchte.

Nun freilich ist zu beobachten, dass eine ältere Dame sich aus einem geöffneten Fenster sehr weit hinausbeugt, um offensichtlich auf der darunterliegenden Gasse etwas zu beobachten. Plötzlich aber scheint sie…, ja, sie verliert tatsächlich ihr Gleichgewicht und stürzt kopfüber…, ja wie kann denn so etwas passieren…, kopfüber aus dem Fenster!

Nur gerade jetzt war Traude abgelenkt, weil der Teekessel in der Küche markant gepfiffen hatte und sie diesen vom Gasherd nehmen musste. Otto berichtet ihr nun von dem gerade Gesehenen. Aber sie meint nur lapidar: „Das habe ich Dir doch gerade erzählt. Aber Du schaust doch nie aus dem Fenster, weil Du immer behauptest, Dich interessiert gar nicht, was andere Menschen in ihren Wohnungen machen!“

Normalerweise stimmt diese Aussage, weil Otto nicht verstehen kann, was es für einen Zweck haben sollte, in anderer Leute Privatsphäre herumzustierln. Aber er hat ja deswegen nur deswegen seinen Blick dorthin gerichtet, weil Traude behauptete, dass da jemand heruntergefallen sei. Und selbst wenn man von keiner quälenden Neugier geplagt wird, bei so einer Aussage reagiert wohl jeder. Nur, und das ist das Merkwürdige daran, er beobachtete es ja auch, obwohl die Traude es bereits als „geschehen“ beschrieben hatte.

Gerade wie sich wie so oft ein leichter Streit entwickelt, wer was wie gesehen haben könnte, sehen es beide: Eine alte Frau beugt sich unvernünftigerweise überaus weit aus dem geöffneten Fenster gegenüber. Und es kommt, wie es kommen musste. Sie versucht sich noch kurz am Vorhang, dann auch am Fensterbrett festzuhalten, aber die Gravitation ist stärker. Mit dem Kopf voran und den Füßen zuletzt fällt sie heraus.

Traude und Otto sind starr vor Schreck und wagen es nichteinmal hinunterzusehen, denn man kann sich wohl ausmalen, was nach einem Sturz aus dieser Höhe mit einem Körper geschehen sein musste und nach menschlichem Ermessen kann so ein tragischer Unfall keineswegs glimpflich ausgehen. Es besteht sogar die zwingende Vermutung eines letalen Endes.

Als Otto nun das innere Bedürfnis hat, jetzt irgendetwas zu tun; die Rettung zu rufen erscheint ihm allerdings nicht sehr logisch; beginnt Traude wie irre mit dem Finger zu fuchteln: „Da…, schau mal da!“

Es hätte keines Fingers bedurft, denn Ottos Brillengläser wurden vor kurzem nachjustiert. Eine alte Dame macht den verhängnisvollen Fehler ihren Oberkörper in beängstigender Weise über das Fensterbrett zu lehnen, sodass ihr Körper einfach ins Rutschen kommen musste. Auch hilflose Handgriffe sich noch im letzten Moment irgendwo festzuhalten schlagen fehl und diesem alten Menschen wird in wenigen Augenblicken sein letztes Stündlein schlagen.

Gerade als Otto einem schon länger anhaltendem, dringenden Bedürfnis nachgeben möchte, weil seit seiner Prostataoperation seine Blase öfters entleert werden muss, steht schon der nächste unvorsichtige ältere Mensch weiblichen Geschlechts an der gegenüberliegenden Maueröffnung, missachtet jegliche Vorsichtsmaßnahme, kommt ins unkontrollierte Gleiten und rutscht vornüber in die Tiefe.

„Das kann doch nicht sein!“, murmelt die Traude an seiner Seite: „Es ist doch logisch, dass man aufpassen sollte, wenn man aus dieser Höhe aus dem Fenster blickt!“ Otto pflichtet dem bei, muss aber jetzt wirklich, egal was noch geschehen könnte, die Toilette aufsuchen. Traude hingegen wird ihre Beobachterposition gerade jetzt nicht verlassen, weil es doch sein kann, dass man noch ein weiterer Unfall passiert. Aber irgendwann endet das Gesetz der Serie, möglicherweise, weil es an Nachschub fehlt.

Jedenfalls tut sich dort drüben jetzt gar nichts mehr Auffälliges. Freilich werden die Geräusche von unten, also von der Gasse, nun eindeutig dominanter. Stimmengewirr mischt sich mit Folgetonhörnern zu einer Symphonie der Dramatik, die wohl auch wert wäre, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Da allerdings diese alte Vorstadtgasse sehr eng und durch die Dachschräge das Fenster leicht nach hinten gesetzt ist, muss man sich etwas vornüber beugen, um selbst den Gehsteig des gegenüberliegenden Hauses zu sehen.

Traude war immer schon vorsichtig und hält sich mit beiden Händen an den Fensterstöcken fest, als sie einen Blick nach unten wagen wird. Dort scheint sich einiges abzuspielen, aber wieviele Unfallopfer wirklich herumliegen, kann Traude aus ihrer schwierigen Position nicht so genau erkennen, obwohl sie eigentlich noch immer Augen wie ein Luchs besitzt. Also muss sie noch einige Zentimeter vorrücken, stets darauf achtend, dass ihre Füße auf jeden Fall fest auf dem Parkettboden stehen.

Nur wenn jemand von hinten kommt, einem die Füße anhebt und sogar noch einen leichten Stesser gibt, kann auch der vorsichtigste Mensch nichts machen und muss einfach in die Tiefe stürzen.

Weshalb Otto in diesem Augenblick so gehandelt hat, wird man nie wissen, weil man in keinen Menschen hineinsehen kann. Aber dass jemand so mir nichts dir nichts zum Mörder wird, klingt auch nicht wahrscheinlich. Möglicherweise ist in fünfunddreißigeinhalb Ehejahren einiges vorgefallen, was einem zu so einer Handlungsweise veranlasst. Jedenfalls hofft Otto aus gegebenem Anlass, dass man den Tod seiner Gattin als tragischen Unfall beurteilen wird.

Anhang: diese Geschichte wäre gendermäßig leicht umzudrehen, doch dieser große russische Dichter ließ in seiner Skizzensammlung „Fälle“ ebenso alte Frauen aus dem Fenster fallen…

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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