Als ich davon hörte, dass eine kurdisch sprechende Biene Maja vom türkischen Staate mittels erdrückender imaginärer Beweislast terroristischer Aktivitäten überführt wurde, ist mir sofort die Anekdote einer anderen fiktiven Figur in den Sinn gekommen, welche sich einst ebenfalls perfider Verbreitung separatistischer, antitürkischer Propaganda im Auftrag finsterer (West-)Mächte schuldig gemacht hatte: Hugo der Troll. Erinnert ihr euch noch an ihn? Ja, ganz Recht, das war dieser hässliche kleine Wicht mit vorstehendem Zahn, grüner Latzhose und Michael Jackson-Frisur, der - aufdringlicher als ein 'Augustin'-Verkäufer vor der Universität Wien - im Fernseher lauerte, von innen an die Bildröhre klopfte, um Leute in ihren Wohnzimmern zu belästigen.

Hugo war Protagonist eines interaktiven Spiels in Kindersendungen, wo man anrufen und ihn durch Ansage von Telefontasten “steuern” konnte, wobei ein Moderator als Mittler fungierte — das heißt, sofern man überhaupt durchkam, denn die Leitungen wurden von Kindern gestürmt, die ihr Glück live versuchen wollten und sich von den hohen Gebühren nicht abschrecken ließen; schließlich gab es attraktive Preise zu gewinnen (fragt mich jetzt nicht, was). Story war dabei stets dieselbe: Hugos Familie war von einer Hexe entführt worden und musste nach Überstehen mehrerer Level und dem obligatorischen bossfight befreit werden. Überflüssig zu sagen, dass das Programm in jedem ausgestrahlten Land für Furore sorgte. Zur Verzweiflung vieler Eltern und Freude von Telefongesellschaften weltweit.

In die Türkei kam der kleine Troll 1993 und wurde anfangs fixer Bestandteil der TV-Landschaft, hielt sich aber letztlich nur drei Jahre. Jedenfalls moderierte da ein Typ namens Tolga, welcher nach Kräften versuchte, den Antretenden behilflich zu sein. Selbstverständlich verloren die allermeisten, etwa, wenn ihre Befehle nicht rechtzeitig durchkamen, weil es (verdächtig oft übrigens) Probleme mit der Leitung gab, Kinder falsche/keine Tasten betätigten, wodurch der arme Hugo daraufhin mit seiner Draisine frontal in die nächste Lokomotive krachte, von der Klippe in bodenlose Tiefe stürzte, oder sonstwie aus dem Rennen war. Was Tolga und Kollegen vergessen hatten: Manchmal sind Kinder einfach nur Kinder — authentisch. Gerade in ihrer Wut. Ohne Rücksicht auf Live-Sendungen. Und so kam es, dass sich laut populärer Legende der Brust eines kleinen Bengels, nachdem er verloren hatte, folgender Verzweiflungsschrei entrang: “Ich ficke Hugo!” (Der überaus blumige Wortlaut aus dem Original — belassen wir es hier mit der Abkürzung a.k. — kann leider nur sehr holprig übersetzt werden).

Moderator Tolga, sichtlich geschockt, versuchte zu retten, was zu retten war, versuchte es mit sanfter Ermahnung; angeblich mit einem Hinweis darauf, dass solche Ausdrücke dem zu dieser höchst zweifelhaften sexuellen Ehre gelangten Troll weniger gefallen würden, doch mir gefällt die Version besser, laut welcher er sinngemäß gesagt haben soll: “Sieh mal, das gehört sich aber nicht. Dein Tolga abi (Anrede für den älteren Bruder, ansonsten für nur leicht ältere, männliche Personen außerhalb der Familie) wird traurig, wenn du so redest.” Die als pädagogische Offensivmaßnahme gedachte Nummer, an das Gewissen des um seinen Preis gebrachten Spielers zu appellieren, ging natürlich voll in die Hose. “Tolga abi”, so kam prompt die wenig schmeichelhafte Antwort, “dich ficke ich auch!” Es war dies zweifellos eine Sternstunde in der Geschichte des türkischen Fernsehens.

Anfang der 2000er wurde nach jahrelanger Absenz ein Comeback versucht. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Inzwischen gab es neue, leistungsfähigere Spielekonsolen, und wem die zu teuer waren, der konnte eines der auch heute noch populären Internetcafés frequentieren. Kurz: Das Konzept war überholt. Vielleicht wäre Hugo dennoch einige Jahre geduldet worden, hätte man ihn nicht enttarnt. Das kam so: An einem bestimmten Punkt im Spiel wurden immer wieder Landkarten eingeblendet, völlig fehlerhafte, auf denen etwa Deutschland zu groß oder England viel zu klein dargestellt wurden. Bei der Türkei fehlte auch ein Teil. Aber nicht irgendeiner, sondern der komplette (Süd-)Osten. Für den bekanntlich eine andere, verbotene, mit K beginnende Umschreibung existiert. Das war der letzte sprichwörtliche Tropfen ins Fass türkischen Nationalgefühls (welches in der Regel ohnehin nur einen aushält, bevor es schäumend überläuft). Man erklärte Hugo zum Staatsfeind; in der ranklist landete er zwar hinter Abdullah Öcalan und Ahmet Kaya (wenngleich denkbar knapp) aber immer noch vor Karl May, Danielle Mitterand und Lawrence von Arabien. (Als einzige fiktive Person neben Super Mario, von dem es hieß, dessen Macher hätten sich optisch am genannten Öcalan orientiert, um die Türkei zu provozieren.) Jedenfalls vorne genug, um aktiv gejagt zu werden.

Die Sendung flog aus dem Programm, diesmal endgültig. Hugo wurde nun behördlich per Haftbefehl wegen Herabsetzung des Türkentums gesucht, musste untertauchen. Eine großangelegte Fahndungsaktion mit Straßensperren, regelmäßigen Patrouillen, Hinweis-Hotlines, Spürhunden blieb ergebnislos. Der Troll war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Es kamen immer neue, grausige Details seiner Person hinzu, denen man allabendlich in den Nachrichten lauschen konnte. Hugo war nicht beschnitten, ja noch nicht einmal Muslim; in fact hatte er niemals eine Moschee auch nur betreten. Anscheinend frönte er zudem heimlich dem Genuß von Schweinefleisch. Dann war er angeblich beim Waffenkauf in Gaddafis Libyen gesichtet worden. Landesvater Kemal soll er gar im betrunkenen Zustand (welch Ironie!) geschmäht haben, was de facto sein Todesurteil besiegelte. Vorausgesetzt natürlich, man würde den frechen Knilch endlich in die lynchbereiten Finger bekommen.

Seither sind viele Jahre ins Land gezogen. Und wann immer von Gefechten in Kurdistan gesprochen wird, so halte ich hoffnungsvoll Ausschau nach Meldungen, wo die Rede ist von einem barfüßigen Kämpfer in grüner Latzhose und Michael Jackson-Frisur, der mit seiner geschulterten Geliebten Kalashnikova rastlos durch die Berge streift, dem Feind immer einen Schritt voraus; in Liedern besungen, in Gedichten geehrt. Unsterblich, wie Emiliano Zapata. Mögen diese Zeilen Ausdruck meiner Bewunderung werden. ¡Viva el guerrillero hugoico!

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